Inspektor Jury laesst die Puppen tanzen
fliegen, will ich sie gern beobachten. Ich habe nie begriffen, was daran so spaßig sein soll, im Morgengrauen im nassen Gras oder auf einem zugigen Ausguck zu stehen und darauf zu warten, dass man einen kurzen Blick auf den Regenpfeifer erhascht.«
»Den Vogel kenne ich nicht. Weiter weg dort drüben liegt das Naturschutzgebiet. Dieser Gewässerstreifen heißt Castle Water und liegt neben Camber Castle.« Die Sonne ließ das Wasser glitzern.
»All das hier ist entstanden, weil das Meer sich zurückgezogen hat?«, fragte Melrose. »Ziemlich merkwürdig, nicht? Normalerweise holt sich das Meer doch immer mehr Land.« Indem er überlegte, wie er beim Thema Billy Maples am besten weiter vorgehen sollte, zog Melrose sein Zigarettenetui hervor. Er wollte nicht allzu neugierig erscheinen. »Ihre Beschreibung von Billy überrascht mich. Von Mrs. Jessup habe ich den Eindruck gewonnen, Billy sei kein besonders ernsthafter Mensch gewesen, eher der Playboytyp. Sie findet ihn – fand ihn – recht verwöhnt.«
»Wovon, möchte ich wissen? Von wem? Seinen Eltern? Das bezweifle ich doch sehr. Billys Problem war seine Zerstreutheit. Er konnte sich nicht lange auf etwas konzentrieren. Aber wenn, dann war es … Er war ziemlich intensiv.«
»Glauben Sie, er hatte seine Konzentration auf das Falsche gerichtet und wurde deshalb umgebracht?«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, ich habe keine Ahnung. Ich weiß genauso viel über Billy Maples wie über den Regenpfeifer.«
Kurt musste wieder lachen.
»Billy war fasziniert vom Krieg, fast krankhaft fasziniert. Vom Zweiten Weltkrieg, meine ich. Er war gern drüben in Lambeth im Kriegsmuseum. Und weil ich während des Krieges als Kind in Berlin gewesen war, fragte er mir endlos Löcher in den Bauch. Ich war damals klein, drei oder vier Jahre alt, und sagte ihm, ich könnte mich an nicht sehr viel erinnern. Er wollte wissen – ah, verstehen Sie, wir waren Juden. Meine Eltern starben beide in Auschwitz. Billy meinte, ich wäre nach dem Krieg bestimmt voller Wut und Verbitterung gewesen und wollte Rache.«
Melrose war überrascht, wie unbekümmert Kurt Brunner ein Mordmotiv bot. »Rache? Sie meinen dafür, was man Ihnen angetan hat?«
»So persönlich bräuchte es doch gar nicht zu sein, oder?«
Er bog vom Kiesstrand und dem aufgewühlten Wasser ab und blickte hinüber zur Straße mit ihren kleinen, dicht aneinandergeschmiegten Gebäuden. Die Straße war voller Schatten.
»Vermutlich ist das zum Teil der Grund, weshalb Mrs. Jessup mich nicht besonders gut leiden kann. Ihre Familie hatte es während des Krieges ziemlich schwer.«
»In der Hinsicht war sie nicht allein.«
»Nein, aber zwei von ihren Schwestern starben bei einem Evakuierungsversuch.«
Melrose wollte das Gespräch weg von der Köchin und wieder zurück auf Billy lenken.
Sie spazierten wieder die East Cliff Street entlang.
»Wieso sollte ein so junger Mensch sich in die Welt von Henry James zurückziehen wollen?«
»Ach, ich glaube nicht, dass es um diese Welt ging. Obwohl er die Bücher von James sehr gemocht hat. Ich glaube, es war einfach ein Spaß für ihn. Und es war Zufall, dass der National Trust einen Lückenbüßer suchte, jemanden, der Lamb House für ein Jahr übernehmen würde. Bis die alles neu ordnen konnten. Billy erfuhr davon und dachte, es wäre interessant. Und eine Herausforderung.« Kurt lächelte.
»Eine Herausforderung?«
»Seine Verlobte sagte, er würde es keine vierundzwanzig Stunden in Rye aushalten. Ich glaube, Billy war beleidigt, für einen Stadtfrack gehalten zu werden, für oberflächlich, als würde er diese Einsamkeit nicht aushalten, als könnte er nicht aus sich selbst schöpfen.«
Melrose streckte den Arm aus, als sie an der hell erleuchteten und gut besuchten Mermaid Tavern vorbeikamen. »Von Einsamkeit ist hier doch nicht die Rede!«
»Nein, nicht, wenn man drinnen ist. Ich bin diese Straße oft entlanggegangen. Und jedes Mal fühlte ich, wie mir diese Ruhe in die Knochen kroch. Die Stille scheint förmlich greifbar. Im Winter, wenn der Nebel hereinwabert oder dichter Dunst die Erde bedeckt, so dass man seine eigenen Füße nicht sehen kann – dann merkt man, wie abgeschieden doch alles ist. Rye ist wie einer dieser Orte, den man in seinen Träumen betritt.«
»Ich frage mich, wie viel von seinem Werk er auf Spaziergängen durch diese Straßen verfasst hat. Henry James, meine ich.«
»Sehr wenig, vermute ich. Ich sehe James als Stubenhocker, was das Schreiben
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