Inspektor Jury lichtet den Nebel
Geschenk zum Valentinstag auch nicht.» Sie ging zu ihrem Stuhl zurück, als hätte diese unverbindliche Tatsache sämtliche Theorien über ein logisch funktionierendes Universum widerlegt. Doch ihre Sorgen waren stärker als jede Entrüstung.
«Wahrscheinlich ist er in London und nimmt wieder mal eine Gouvernante für dich unter die Lupe.» Mrs. Mulchop schaute zu ihrem Mann hinüber, der sein Gesicht jedoch so tief in die Schüssel gesteckt hatte, daß er ihren Blick nicht erwidern konnte.
Jessie hörte die Spitze in dem «wieder mal». Sie verschliß Gouvernanten wie andere Leute Strümpfe.
«Und allein bist du auch nicht. Du hast mich, Mulchop, Miss Gray und Sharon.»
Die Schauerliche Sharon, Miss Plunkett, die derzeitige Gouvernante. Die keine richtige war. Eher eine Aufseherin, für die sich Onkel Rob entschieden hatte, nachdem er die Kopflose Karla entlassen mußte, die zwar einfach brillant Mathematik unterrichten konnte, aber ständig Schlüssel und Brillen verlegte. Und auf einem Spaziergang im Moor war ihr eines Tages auch Jessie abhanden gekommen, obwohl es bei der nachfolgenden Auseinandersetzung mit Robert Ashcroft unklar blieb, wer da wen verloren hatte.
Heerscharen von Gouvernanten. Wie saßen sie beim Vorstellungsgespräch doch bieder und brav da. Onkel Rob befragte sie eingehend zu ihren früheren Stellungen, erkundigte sich nach Referenzen und prüfte, ob sie in Ausnahmesituationen auch richtig reagierten. Und von Zeit zu Zeit trickste er sie mit Fragen aus, wie Mögen Sie auch Kaninchen?.
Es gefiel Jessie, wie seine Mundwinkel dabei zuckten und die angehende Angestellte verdutzt dreinschaute. Na ja. Irgendwie mag ich sie schon … Später hatte er Jess dann erklärt, er hätte damit ihre Ehrlichkeit testen wollen. Sie stammte aus Portland (genau wie die Steine, mit denen das Herrenhaus von Ashcroft gebaut war). In Portland darf man Kaninchen niemals erwähnen. Kein Mensch da kann sie ausstehen , hatte Onkel Rob gesagt.
Mit ihrer Antwort hatte sich die Frau also einen lukrativen Posten verscherzt, wie übrigens die meisten Anwärterinnen. Da saßen sie und sagten: O ja, Mr. Ashcroft , wenn sie Nein meinten; oder: O nein, Mr. Ashcroft , wenn sie Ja meinten. Viele wollten sich auch bei Jessica anbiedern, bis sie merkten, daß man sich bei Jessica nicht anbiedern konnte. Sie nannten sie Püppchen und tätschelten ihren Hund Henry, nur um zu zeigen, wie tierlieb sie doch waren.
Die erbarmungslose Jagd auf die perfekte Gouvernante zählte nicht zu Robert Ashcrofts Lebensaufgaben, und so überließ er am Ende Jessie die Entscheidung, denn schließlich mußte sie mit der Frau auskommen. Onkel Rob fragte sich des öfteren, warum sie nicht die netteren nahm und sich immer die schlimmste aussuchte. So hatte sie denn alle verschlissen: die Hoffnungslose Helen (die vor allem am Schlüssel zum Barschrank interessiert war); die Irre Irene, die beim Vorstellungsgespräch vor Lampenfieber nur so zitterte, sich dann aber als brüllende Löwin entpuppte, denn sie war die geborene Schauspielerin; die Besonnene Beverly, die sich eines Nachts ziemlich eilig mit dem Crown-Derby-Geschirr aus dem Staub machte. Am längsten von allen hatte sich die Dubiose Daisy gehalten, denn die hatte nun wirklich nichts angestellt, außer daß sie ihre Schülerin haßte, etwas, was sie vor allen zu verbergen wußte, nur nicht vor Jessie. Jessie ließ sich die kalte Behandlung gefallen, sie wußte, Daisy würde sich schließlich doch verraten. Nur ihr Aussehen machte Jessie ziemliche Sorgen: Sie war dunkel und gepflegt und wand sich auf dem Sofa wie eine Kobra, wenn Onkel Rob zugegen war. Onkel Rob jedoch ließ sich nicht so leicht hinters Licht führen; die Dubiose Daisy hielt sich einen Monat.
Onkel Rob kam und kam nicht dahinter, nach welchen Kriterien seine Nichte die Gouvernanten auswählte. Warum Miss Simpson und nicht Miss James? Auf mich wirkte Miss Simpson etwas steif. Wo doch Betty James, na ja, ganz bezaubernd war , sagte er, ehe er sich wieder in die Lektüre seiner Morgenzeitung vertiefte und seinen Morgentoast mit Orangenmarmelade bestrich. Aber Jessie duldete keine Bezaubernden Bettys im Haus.
Und so beschwerte sich Jessie nie über Daisy, denn sie wußte, wenn eine rausflog, wartete die nächste schon in den Kulissen. Die Liebenswerte Linda.
Jessie war eine unersättliche Leseratte – was sie größtenteils der Irren Irene verdankte, die sie mit Büchern und Theaterstücken gemästet hatte wie eine
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