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Inspektor Jury lichtet den Nebel

Inspektor Jury lichtet den Nebel

Titel: Inspektor Jury lichtet den Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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klar gedacht –»
    «Sie haben die Panik bekommen, was?» Sein Ton war fast freundlich.
    «Panik. Ja, so könnte man wohl sagen.»
    «Und deswegen haben Sie das Mädchen mit Ihrem Cape zugedeckt?»
    Sie nickte und wandte den Blick ab.
    «Nicht, weil Sie die Leiche verstecken wollten», sagte Macalvie in sachlichem Ton.
    Sie schaute ihn kurz an. «Also, ich bitte Sie! Wenn ich sie umgebracht hätte, ich hätte ganz sicher nicht mein Cape dagelassen und damit die Polizei auf meine Fährte gelockt.»
    Macalvie sagte achselzuckend: «Sie sind nicht die einzige in Lyme und Umgebung, die ein Cape besitzt.»
    «Glauben Sie etwa, das hätte ich riskiert?»
    «Weiß ich nicht. Kennen Sie die Thornes?»
    Sie schüttelte den Kopf und schaute in ihre Kaffeetasse, die ihr die Kellnerin gebracht hatte, trank aber keinen Schluck.
    «Woher wußten Sie, wo der Hund hingehört?»
    «Der Hausname stand auf dem Anhänger am Hundehalsband.»
    «Sehr menschenfreundlich. In Dorchester gibt es ein Pub, ‹Der Ständebaum› mit Namen. Schon mal dagewesen?»
    «Nein. Ich bin kein Kneipengänger.»
    «Dann trinken Sie keinen Alkohol?»
    «Ganz im Gegenteil. Ich trinke viel. Aber allein.»
    Wiggins, der Molly Singer bereits als eine von den Ungerechtigkeiten des Lebens gebeutelte Kreatur ins Herz geschlossen hatte, sah betrübt aus. Jury befürchtete schon, er werde sie allesamt zu einem Zug durch die Gemeinde auffordern.
    «Wie Sie bereits wissen dürften», fuhr Molly fort.
    Macalvie machte runde Katzenaugen. «Woher denn?»
    Sie sah Jury an. «Hat Ihnen der Superintendent das etwa nicht erzählt? Mit Sicherheit haben Sie doch sogar schon die Müllabfuhr ausgequetscht.»
    Macalvie lachte. «Ganz schön schlau», sagte er ironisch. «Wo waren Sie gestern früh? Sagen wir, so gegen sechs?»
    «In meinem Cottage. Ich habe geschlafen. Wieso?»
    «Und wo am Nachmittag des zehnten?»
    «In meinem Cottage. Oder ich bin spazierengegangen, auf dem Cobb.»
    «Wie gestern abend?»
    «Ja.»
    «Hat Sie jemand gesehen?»
    «Wahrscheinlich nicht.»
    «Sie gehen nicht viel aus.»
    «Nein.»
    «Sie haben keinen Besuch?»
    «Nein.»
    «Ein merkwürdiges Leben.»
    «Ich leide unter Agoraphobie.» Der Ansatz eines verlegenen Lächelns auf ihrem Gesicht verschwand, als Macalvie mit der Faust auf den Tisch schlug.
    «Ich scheiße auf Ihre Phobien. Wenn Sie in psychiatrischer Behandlung waren, dann beantrage ich eben bei Gericht Einsicht in Ihre Krankenakte. Sie gehen nicht aus, Sie haben keinen Besuch, aber –» Macalvie zeigte auf die Straße – «was ist mit dem netten kleinen Lamborghini da in der Kurzzeitparkzone am Meer, der vor drei Jahren zugelassen wurde und schon über sechzigtausend auf dem Tacho hat? Wenn Sie nicht in der Gegend rumkommen! Mit dem Auto könnten Sie die Strecke nach Dorchester und zurück in knapp einer Stunde zurücklegen, und in zwei Stunden wären Sie in Wynchcoombe, jede Wette, vorausgesetzt, Ihnen kommt kein Polyp in die Quere. Wozu braucht eine kleine Stubenhockerin wie Sie einen Lamborghini?»
    Molly Singer stand gemächlich auf. «Ich denke, ich habe alle Ihre Fragen beantwortet.»
    «Nein, das haben Sie nicht. Setzen Sie sich.»
    «Wollen Sie nicht lieber Ihr Frühstück beenden?» Und ehe jemand sie daran hindern konnte, hob sie den Tisch an, Teller, Essen und Besteck rutschten hinab, klirrten ineinander und landeten größtenteils auf Macalvies Schoß. Dann ging sie.
    «Mein Gott! Was für ein Temperament.» Der fleckige Anzug und das Durcheinander von Tassen, Bücklingen und zerbrochenem Geschirr schien Macalvie perverserweise Spaß zu bereiten.
    Selbst das Porzellangesicht der Kellnerin in Schwarz und Weiß bewegte sich ein wenig.
     
     
    L YME R EGIS WAR eines dieser hübschen kleinen Küstenstädtchen, deren Ausstrahlung sehr durch die Nähe zum Meer gewinnt. Vor zwei Jahrhunderten hatte Jane Austen so für Lyme geschwärmt, daß sich dort, wo die Strandpromenade in eine schmale Straße mündete, eine hübsche Boutique befand, die sich «Überredungskunst» nannte, wie ihr Roman. Na ja, dachte Jury, wenn in Stratford-on-Avon Shakespeare auf jedem Zuckerstückchen abgebildet ist – warum nicht.
    Macalvie kam ein Stück weiter unten an der Straße aus dem Zeitungsgeschäft, dort, wo die Broad Street und die Silver Street mit ihren Cafés, Gemüsegeschäften, einer Drogerie und Banken zusammenliefen und aufs Meer zugingen. Wiggins hatten sie im «Weißen Löwen» zurückgelassen; er sollte sich um die Scherben

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