Inspektor Jury lichtet den Nebel
Weihnachtsgans. Die Irre Irene hielt sich selbst für die Heldin all dieser Stücke. An so manchem regnerischen Morgen konnte man Jess, Henry als Rückenstütze auf eine Fensterbank der Bibliothek gekuschelt, antreffen, wie sie Jane Eyre oder Rebecca verschlang. Jessie konnte man nichts vormachen, Frauen waren im Grunde genommen gerissen, dabei aber so sanft und nett und zurückhaltend, daß ihnen sogar Jessie auf den Leim gehen konnte.
Ihr Onkel war einmal – vor langer, langer Zeit – mit einer umwerfenden, aber hinterhältigen Frau verheiratet gewesen, die ihm das Herz gebrochen hatte. Er war darüber fast zugrunde gegangen – so interpretierte sie es zunächst am Frühstückstisch: «Es hat dich zerbrochen. Und jetzt hast du nichts mehr für Frauen übrig, stimmt’s?»
Er wirkte keineswegs gebrochen, als er jetzt seine Post aufmachte. Und tatsächlich sagte er: «Nein – zerbrochen bin ich nicht daran. Und für Frauen habe ich durchaus noch etwas übrig, o ja. Wenn ich bloß daran denke, wie viele ich schon dir zuliebe unter die Lupe habe nehmen müssen.»
Tröstend hatte sie ihm die Hand auf den Arm gelegt. «Aber schön war sie, ja?»
«Ja, das war sie. Nur konnte sie Autos auf den Tod nicht ausstehen.» Er lächelte.
«Sie muß dich wahnsinnig geliebt haben.»
«Nicht wirklich.» Damit widmete er sich wieder seiner Zeitung.
Diese vielen Gouvernanten, die in den letzten vier Jahren nach Ashcroft gekommen waren. Was hatte sich ihnen nicht alles geboten: Reichtum, gesellschaftliches Ansehen, das Privileg, auf diesem Gut zu leben – nicht zu reden von einem der begehrtesten Junggesellen des ganzen Königreiches. Und neun Automobile.
Das einzige, was zwischen ihnen und dem Himmel auf Erden stand, war Lady Jessica Allan-Ashcroft.
D EN T RAUERGOTTESDIENST HATTE MAN in seiner Pfarrkirche abgehalten und die sterblichen Überreste auf dem laubverwehten Friedhof von Chalfont St. Giles der Erde übergeben, in dem Ort, wo ihr Vater geboren und wo Jessicas Mutter vor Jahren gestorben war. Ihr Vater war Earl of Curlew und Viscount Linley, James Whyte Ashcroft gewesen, ihre Mutter Barbara Allan, an der jedoch nur der Name durchschnittlich gewesen war. Und beide hatten Jessica ihre Namen vermacht.
Jessie war sechs, als ihr Vater starb. Noch wenige Tage zuvor war sie mit ihrem Hund Henry durch das heimatliche Gut in Chalfont getobt.
Man hatte sie in Trauerkleidung gesteckt. Eine Tante hatte ihr mit raschem Griff einen Strohhut mit schwarzem Trauerband auf den Kopf gesetzt und ihr schwarze Handschuhe gegeben. Jessie kannte die Tante nicht, sie kannte keinen der Verwandten, die sich im großen Kreis um das Grab aufgebaut hatten, kannte niemanden außer ein paar alten Freunden ihres Vaters.
Jessie war mucksmäuschenstill, hätte aber am liebsten aufgeschrien, als der Pastor vom Himmelreich und himmlischer Gerechtigkeit faselte. Sie glaubte nicht, daß die himmlische Gerechtigkeit ihren Vater gereizt hatte. Der wäre lieber bei seiner Jessie geblieben.
Da standen sie herum, die wenigen Freunde und die Verwandten, trist und reglos wie gekappte Bäume, schwarz und scheußlich, manche tief verschleiert oder mit dem Hut in der Hand, die Mienen erstarrt, als seien sie Schlittschuhläufer auf einem dunklen See. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie schüttelte sie ab, denn die Finger fühlten sich wie Klauen an. Als sie sich am Grab umblickte, sah sie rote Augen, aber es schienen Wolfsaugen zu sein; nicht Trauer hatte sie gerötet.
Für diese Leute war Jessica Allan-Ashcroft vier Millionen Pfund wert. Und da war das Gut der Ashcrofts noch nicht einmal mitgerechnet.
Der Gottesdienst war gerade vorüber, da bemerkte sie den Fremden im hellen Burberry. Die Trauergäste vollzogen das gräßliche Ritual, warfen ihrem Vater handweise Erde ins Grab nach. Der Fremde bahnte sich einen Weg durch die schwarze Trauergemeinde, kniete sich hin und schob ihr die blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. «Weine!» sagte er nur, aber er sagte es so, daß sie aus ihrer Erstarrung erwachte und die Tränen nur so strömten. In seinem Gesicht erkannte sie ihren Vater und sogar sich selbst wieder, und sie warf sich in seine Arme und vergrub das Gesicht in seinem Regenmantel.
Anwälte, überall Anwälte, im Haus am Eaton Square herrschte ein Kommen und Gehen wie von Traumgestalten. Weitere Verwandte trafen ein, doch auch die kannte Jessica nicht, sie setzten Trauermienen auf und brachten ihr Geschenke mit, die sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher