Inspektor Jury lichtet den Nebel
haben wollte, nannten sie «Süße» und «Schätzchen», aber sie wußte, keiner von ihnen meinte es ehrlich.
Am Tag nach dem Begräbnis – ihr kam es vor, als seien Monate vergangen – stand sie am hohen Fenster im Haus am Eaton Square und überlegte, ob der Regenmantelmann wohl wiederkommen würde. Von den Bäumen troff der Regen, und Henry blickte mit rotgeränderten Augen zu ihr hoch, er war der einzige, der wirklich litt.
Sie schienen Wache zu halten. Die Verwandten hatten sich mit dem Anwalt ihres Vaters in der Bibliothek zusammengesetzt, man hüstelte hinter vorgehaltener Hand.
Als er dann endlich kam, im strömenden Regen über die Straße lief, rannte Jessie zur Tür und lauschte. Sie hörte Stimmen im Vestibül, einen Wortwechsel zwischen dem Butler und dem Fremden, dann herrschte wieder Ruhe.
Bis das Testament verlesen wurde.
Der Rechtsanwalt, ein rundlicher Mann mit Hängebäckchen, der an Henry erinnerte, nahm ihre Hände in seine dicken Schwitzhände und erklärte ihr die «Situation». Langweilig, dieses Gerede von Geld und Besitz. Das wichtigste war doch, wer zu ihrem Vormund bestimmt war. Wie aufs Stichwort kam eine große Frau mit einem kleineren Ehemann zur Tür herein. Es war die Frau, die so besitzergreifend ihre Hand auf Jessicas Schultern gelegt hatte. Ringe glänzten an ihren Fingern, und der arme Fuchspelz um ihren Hals ließ die Glasaugen funkeln. Ein Blick genügte Jessie, um zu erkennen, daß diese Frau nicht tierlieb war. «Was wird mit Henry?» fragte Jessie.
Mr. Mack, der Rechtsanwalt, fand das sehr lustig. «So begreif doch, Jessie. Das ganze Vermögen deiner Mutter ging an dich und deinen Vater. Jetzt erbst du alles. Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert.»
Die Verwandte mit den Ringen schnaubte und sagte, sie und AI würden von nun an für sie sorgen, sie solle mit ihnen gehen. AI redete ihr gut zu. Es sei nun einmal passiert, und jetzt würden sie gehen.
Und dann kam der Mann vom Friedhof zur Tür herein.
Mr. Mack sagte: «Das ist dein Onkel Robert, Robert Ashcroft, der Bruder deines Vaters. Dein Vater hat ihn zu deinem Vermögensverwalter und Vormund bestellt.»
«Auch zu Henrys», sagte Robert Ashcroft und zwinkerte ihr zu.
Es entstand ein Riesengeschrei. Am liebsten hätten sie Robert Ashcroft, wenigstens seinen Rechtsanspruch, in der Luft zerrissen. Zehn Jahre war er in Australien gewesen. Jessie fühlte sich, als wäre sie kurz vor dem Ertrinken noch einmal zur Wasseroberfläche aufgetaucht, als blendete sie jetzt die Sonne. Seine Haare waren dunkelgolden, seine Augen hellbraun. Als der Donner der vielen Stimmen verstummte, war es Jessie, als würfe die Sonne Strahlen ins Zimmer, als seien sämtliche Deckengewölbe von Gold durchströmt.
11
E S WAREN « DIE B RIEFE », die sämtliche Pläne der Verwandten (der rhetorisch ungeschickten ebenso wie der raffinierten) vereitelten, das Testament anzufechten. Jessies Vater war so klug gewesen, Verwandten, die er nicht mochte (und das waren die meisten), kleine Legate auszusetzen. Damit hatte er sie als Familie anerkannt, gleichzeitig aber seinem Verdruß darüber Ausdruck verliehen, daß es sich um seine eigene handelte. Es wirkte wie ein mageres Trinkgeld für schlechte Bedienung.
Es war eine sehr große Familie, doch innige Verwandtschaftsbeziehungen gab es nicht. «Als ich vor zehn Jahren nach Australien ging, war ich dreißig», hatte ihr der Onkel erzählt. «Und ich kann mich nicht erinnern, in diesen dreißig Jahren auch nur einen dieser Verwandten gesehen zu haben, die jetzt hier herumkreisen wie die Aasgeier.»
Die Aasgeier waren dann schließlich fortgeflogen, nachdem sie monatelang von «schlechtem Einfluß» und «krankem Hirn» geredet hatten, und Jessie und Onkel Robert saßen im Salon des von der Aprilsonne durchfluteten Hauses am Eaton Square. «Schlechter Einfluß. Daß ich nicht lache. Deinen Vater konnte man sowieso nicht beeinflussen. Und wie hätte ich das wohl von Australien aus schaffen sollen? Zehn Jahre lang hatten wir nur Briefkontakt.» Er verstummte und sagte dann: «Hoffentlich macht es dich nicht traurig, wenn wir von deinem Vater sprechen.»
«Nein. Ich will alles über ihn wissen. Und auch über Mutter.» Henry lag zwischen ihnen und diente als Armlehne. «Erzähl mir mehr.»
«Im Laufe dieser zehn Jahre müssen sich Hunderte von Briefen angesammelt haben. Jimmy ging es ziemlich schlecht nach dem Tod deiner Mutter.» Er hielt inne, seine Gedanken wanderten zurück.
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