Inspektor Jury lichtet den Nebel
«Und auch vorher. Er litt unter Depressionen … Ich weiß auch nicht, er hatte so eine Art Vorahnung von Barbaras Tod. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich wegging. Aber es mußte sein.»
«Wieso?»
Er schwieg. «Es mußte einfach sein. Diese Briefe jedenfalls beweisen, daß der Kontakt zwischen uns nie abgerissen ist. Als Junge hat man mich nämlich auf eine gräßliche Privatschule geschickt, da war Jimmy zwanzig und ich zehn. Es war die Hölle auf Erden, und da hat er mir drei-, viermal die Woche geschrieben. Er wußte, wie dreckig es mir ging. Das tut nicht jeder Zwanzigjährige für einen Zehnjährigen.»
Jessie beugte sich über Henry und legte den Kopf an Roberts Schulter. «Ihr wart Kumpels. Bestimmt hat er sich, als du sechs warst, deinetwegen geprügelt, wenn die anderen Jungs dich geärgert, deinen Hund mit Steinen beworfen, sich über dich lustig gemacht und dir Spitznamen gegeben haben. Das hat er doch, oder?» fragte sie voller Hoffnung.
«Aber ja doch.»
«Erzähl mir von Mutter», befahl sie.
«Sie war schön. Dunkles Haar und dunkle Augen. Du kommst ganz nach ihr.»
Damit ihr Onkel nicht sah, daß sie errötete, machte sie sich an Henrys Ohren zu schaffen, versuchte, sie zusammenzubinden, was gar nicht so einfach war, denn sie waren sehr klein.
«Übrigens, was den Namen deiner Mutter betrifft: ‹Barbara Allan› ist der Titel eines alten Volkslieds», sagte Robert.
«Wovon handelt es?» Henry wachte auf und schüttelte die Ohren.
Zuerst wollte Robert nicht heraus mit der Sprache, doch Jessie bohrte weiter. Sie duldete einfach nicht, daß eine wichtige Frage, also eine der ihren, unbeantwortet blieb.
«Es handelt von ihrem geliebten William, der an gebrochenem Herzen stirbt.»
Der Ton, in dem er das sagte, war merkwürdig, und Roberts Schweigen gefiel Jessie überhaupt nicht. «Ich hab ein Foto!» Sie sprang auf, und schon war es vorbei mit Ruhe und Gemütlichkeit, was Henry sehr mißfiel. «Ich hab es gut weggeschlossen.»
«Weggeschlossen? Warum denn?»
Weil sie insgeheim Angst hatte, ihre Mutter könnte, wenn zu viele Augen sie ansahen, verblassen, sich verflüchtigen, ihre Konturen könnten mit dem Hintergrund verschmelzen, und dann wäre das schöne Gesicht von Barbara Allan für immer verschwunden. Und leider, leider gehörte auch Jessie zu den Betrachtern. Wenn sie es zu lange ansah, würde das Gesicht auf dem Foto verlöschen wie ihre Mutter. Diese dummen, albernen Gedanken behielt sie jedoch lieber für sich. Jess ging zu dem Ebenholzschreibtisch, holte den Schlüssel aus einer Vase und öffnete damit die unterste Schublade. Es war nur ein Schnappschuß. Die Frau darauf kniete im hohen Gras und pflückte Feldblumen. Ein lustiger kleiner Welpe äugte durch die Grashalme.
«Das ist Henry», sagte sie mit gespieltem Abscheu. «Wenn er ihr doch bloß nicht immer nachgelaufen wäre. Einmal ist sie über ihn gestolpert – ich hab’s gesehen – und ist hingefallen. Er hätte sie umbringen können. So ein böser Hund.» Sie blickte zu Henry hinüber, um zu sehen, ob er protestierte. «Aber jetzt ist Henry brav.» Jetzt merkte sie, welche Last sie jahrelang mit sich herumgeschleppt hatte, was sie im nachhinein erschreckte. Hatte sie ihrer Mutter etwas angetan? War sie womöglich bei ihrer Geburt gestorben?
Und Robert erahnte ihre Gedanken. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und sagte barsch: «Jetzt hör mir mal gut zu! Du hast deiner Mutter gar nichts getan, Jess. Sie hat zwar gesund ausgesehen und war viel jünger als dein Vater, aber trotz allem war sie krank.»
Jessie sah sich das Foto ihrer Mutter an, und ein großer Stein fiel ihr vom Herzen. Sie putzte das Glas sorgsam mit dem Saum ihres Rockes. Dann stellte sie das Foto auf dem Schreibtisch auf. Ihre Mutter würde nicht verschwinden, nur weil Jessie sie zu lange ansah.
Aber es war ihr wirklich peinlich, daß ihr Onkel soviel von ihr wußte, wo sie doch selber gerade erst darauf gekommen war.
«Henry sollte jetzt Gassi gehen», sagte sie mit sanfter Stimme. Henry wäre nur einmal im Jahr Gassi gegangen, wenn es Jess überlassen gewesen wäre.
«Darf ich mitkommen?»
«Na ja, gut. Aber Henry hört nur auf mich. Wenn du ihm einen Stock wirfst, holt er ihn nicht. Er gehorcht nur mir.»
Jessie wußte ganz genau, daß niemand Henry dazu bewegen konnte, Stöckchen zu holen.
U ND DA SASS SIE NUN , vier Jahre später, vier Jahre, die sie in Begleitung der Kopflosen Klara oder einer ihrer Kolleginnen
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