Inspektor Jury schläft außer Haus
sie mich eigentlich nur neugierig machen. Anvertraut hat sie mir nie was.»
Jury fand es bemerkenswert, daß das Mädchen in der Lage war, solche Nuancen zu erkennen. Die meisten Mädchen hätten gekicherte Anspielungen schon für einen Austausch von Vertraulichkeiten gehalten.
Sie fuhr fort. «Soviel ich weiß, hat Ruby mit keinem aus dem Dorf was gehabt. Aber sie machte immer solche Andeutungen, daß sie mit mehr als einem …» Daphne errötete und strich den Rock ihrer schwarzen Uniform glatt.
«… schläft, meinen Sie das?»
Sie nickte; anscheinend fand sie das Wort weniger anstößig, wenn ein Polizeibeamter es aussprach. «Die Sache ist, Ruby war schon immer eine Geheimniskrämerin. Ganz egal, ob nun was dahintersteckte oder nicht. Sie versuchte aus allem was zu machen. Zum Beispiel fragte sie mich, ob ich denn nicht wissen wolle, woher ihr neues Kleid, ihre neue Handtasche, ihr Schmuck oder was weiß ich noch alles, stammen würde – als ob einer in Long Pidd sie, hmmm, sie aushalten würde. Sie hatte dieses Goldarmband, das sie immer trug – ich hab sie nie ohne gesehen – du lieber Himmel, was hat sie damit für ein Theater gemacht! Zuerst sagte sie, sie hätte es geschenkt bekommen, und dann behauptete sie, sie hätte es gefunden. Bei Ruby wußte man nie, ob sie die Wahrheit sagte. Und dann diese ganzen Geschichten mit Mrs. Gaunt. Ruby machte gerade die Hälfte von dem, wofür sie bezahlt wurde. Wenn sie abstauben oder aufräumen sollte, fing sie mit dem Pfarrer an zu quatschen; er erzählte ihr dann meistens auch was, und sie tat so, als würde sie das brennend interessieren. Er merkte überhaupt nicht, daß sie sich nur um ihre Arbeit drücken wollte und gerade einmal mit dem Staubwedel über seinen Schreibtisch fuhr. Wenn sie die Kirche ausfegen sollte, setzte sie sich einfach wo hin und las ihre Filmzeitschriften oder schrieb in ihr Tagebuch. Manchmal hat sie sich auch die Fingernägel lackiert.» Daphne kicherte.
«Ruby hat ein Tagebuch gehabt? Haben Sie es gesehen?»
«O nein, Sir. Sie hätte es mir auch nie gezeigt, wo sie doch immer so geheimnisvoll tat.»
Jury nahm sich vor, Wiggins zu Mrs. Gaunt zu schicken, um mehr darüber in Erfahrung zu bringen.
«Stutzig wurde ich erst, als Ruby behauptete, sie wüßte was über jemanden in Long Pidd.»
«Hat sie das so gesagt?»
Daphne nickte. «Haben Sie eine Ahnung, was sie damit gemeint hat?» Daphne schüttelte den Kopf so entschieden, daß ihre hellbraunen Löckchen wie kleine Korken am Rand ihres gestärkten weißen Häubchens auf und ab hüpften.
«Nein, Sir. Ich war wirklich neugierig und hab immer wieder versucht, es aus ihr rauszukriegen, aber je mehr ich mich anstrengte, desto komischer schien sie das zu finden. Es wäre doch wirklich eine Überraschung, meinte sie, wenn herauskäme, daß sie jemanden am Bändel hätte. Eine richtige Überraschung würde das werden.»
Jury seufzte. Bei jemanden wie Ruby Judd würde es praktisch unmöglich sein, die Spreu vom Weizen zu trennen. Ihr Geheimnis konnte alles sein – von der Frau aus dem Dorf, die für den Milchmann die Beine breit gemacht hatte, bis … zu Mord.
Weatherington war eine mittelgroße Stadt, die ungefähr doppelt so viele Einwohner hatte wie Sidbury. Und Sidbury war ungefähr doppelt so groß wie Long Piddleton. Die drei Orte waren auch gleich weit voneinander entfernt; Sidbury lag etwa achtzehn Kilometer westlich von Long Piddleton und Weatherington achtzehn Kilometer südwestlich von Sidbury. Zur Unterstützung der örtlichen Polizei hatte die Londoner Zentrale eines ihrer Labors in Weatherington aufgebaut. Und es gab ein kleines Krankenhaus, in dem Appleby seine Obduktionen durchführte.
Auf dem Revier mit den glänzenden, beigefarbenen Wänden sprang einem vor allem die abblätternde Farbe ins Auge. Aber auf Schönheit kam es hier nicht an. Jury ging an der Telefonzentrale vorbei, in der eine großmütterlich aussehende Frau an einem roten Wollschal strickte. Im Büro beugte sich der diensthabende Beamte über sein Buch unter einem gelben Schild. «Herumlungern verboten». Jury hatte sich schon oft gefragt, wer wohl an Orten wie diesen herumlungern wollte. Er ging an Tischen und Schränken vorbei, die vor Akten überquollen, während die Angestellten vor allem ihre Schreibmaschinen hin- und herzutragen schienen. Er ließ sich mit Dr. Appleby verbinden.
«Nein, das war sie nicht», antwortete der Arzt auf Jurys Frage, ob Ruby Judd schwanger gewesen sei, als sie
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