Inspektor Jury schläft außer Haus
Löffel des Bestecks verharrten in der Luft. «Ich war hier, jetzt erinnere ich mich wieder, den ganzen Nachmittag und Abend.»
«Ich muß zu Hause gewesen sein», sagte Vivian unsicher. «Ich glaube, Oliver kam vorbei.»
Jury bemerkte, daß Matchett das Gesicht verzog.
«Machen Sie denn nie eine Pause, Inspektor?» Matchett rieb frischen Käse über den Salat und streute noch eine Handvoll geröstete Brotwürfel darüber.
«Würde ich, wenn unser Mörder das auch täte.»
Matchett reichte ihnen zwei Glasteller mit Salat. Als Jury ihn versuchte, fand er ihn köstlich. Es gab bestimmt nicht viele Männer, die sich über einen noch frischen Mord unterhalten, einen Caesar-Salat mischen und die Rolle des Erwählten bei einem so exquisiten Wesen wie Vivian Rivington spielen konnten. Was immer er auch war, ein einfacher, unkomplizierter Bursche war er nicht.
«Also, Daphne, sprechen wir über Ruby Judd.»
Es war eine Stunde später, und er saß mit ihr am selben Tisch im Speiseraum. Matchett war gegangen, um Vivian Rivington nach Hause zu bringen.
Daphne hatte einen Berg Kleenextücher vor sich aufgetürmt und aufgebraucht, so viele Tränen waren geflossen, seit sie von Rubys traurigem Schicksal gehört hatte.
«Sie sind doch mit ihr befreundet gewesen? Ich habe gehört, daß Sie sie auch bei dem Pfarrer untergebracht haben.» Jury hatte die Fotos aus seiner Brieftasche gezogen und auf den Tisch gelegt. Eines zeigte Ruby in einer der üblichen starren Posen. Sie hatte langes, schwarzes Haar und ein hübsches, ausdrucksloses Gesicht. Auf dem anderen Schnappschuß war mehr von ihrer üppigen Figur zu sehen: große Brüste, die sich unter einem zu engen Pullover abzeichneten, und wohlgeformte Beine. Ihr Mund war zu einer nicht gerade schmeichelhaften Grimasse verzogen, da sie direkt in die Sonne blinzelte. Ihr Gesicht war halb im Schatten.
«Ja, Sir, das hab ich», sagte Daphne und strich sich die Locken aus der schweißbedeckten, glänzenden Stirn. Ihr Gesicht war vom Weinen schon ganz rot und verquollen.
«Wie lange haben Sie sie gekannt, Daphne?»
«Oh, schon seit Jahren. Seit der Schulzeit. Wir waren in derselben Klasse. Ich komme auch aus Weatherington, wissen Sie. Als die letzte Hausangestellte des Pfarrers gekündigt hat, weil sie heiraten wollte und nur noch diese Mrs. Gaunt bei ihm war – ein richtiger Hausdrachen ist das – hab ich ihn gefragt, ob er nicht wieder ein Mädchen haben will, ich würde eine kennen, die sehr tüchtig ist und Arbeit sucht. Er hat gesagt, ich soll sie vorbeischicken.» Daphne blickte auf ihre Schuhe und sagte mit matter Stimme: «Ich hätte mir das vielleicht doch überlegen sollen, Sir. Ich meine, sie war nicht gerade die Zuverlässigste.» Sie hielt sich die Hand vor den Mund, weil sie einer Toten etwas Schlechtes nachgesagt hatte.
«Was meinen Sie mit nicht zuverlässig?» Jury bemerkte, daß Twig die Kristallgläser besonders hingebungsvoll polierte, schon seit fünf Minuten hielt er ein und dasselbe Glas in der Hand.
Daphne senkte ihre Stimme. «Ruby saß ein- oder zweimal ganz schön in der Patsche, verstehen Sie?»
«In was für einer Patsche?» Jury war überzeugt, daß die Schwierigkeiten mit Rubys Liebesleben zu tun gehabt hatten, denn das Gesicht der Kellnerin war auf einmal puterrot geworden. Und da ihr anscheinend auch die Worte im Hals steckenblieben, kam er ihr zu Hilfe: «War Ruby schwanger?»
«O nein, Sir, nicht, daß ich wüßte. Sie hat nie was davon gesagt. Wer … einmal ist sie auch schwanger gewesen. Einmal. Vielleicht aber auch mehr als einmal.» Daphne sah aus, als wäre sie selbst vom Pfad der Tugend abgekommen.
«Sie hatte eine Abtreibung, meinen Sie das? Oder vielleicht auch mehrere?»
Daphne nickte stumm und warf einen verstohlenen Blick in Twigs Richtung. Aber der alte Diener hatte sich nach hinten verzogen, als er Jurys Augen auf sich spürte.
«Manchmal tat sie mir beinahe leid. Was soll ein Mädchen wie sie auch machen, wenn ihre Familie sie immer nur abschieben will. Ihre Alten sind schreckliche Spießer. Sie hat sich aber nie getraut, ihnen das zu sagen. Als Kind hatte sie eine Tante und einen Onkel, zu denen sie geschickt wurde. Zu ihrer Tante Rosie und ihrem Onkel Will, hat sie gesagt. An ihnen hing sie viel mehr als an ihren Alten. Die wollten sie bloß loswerden, bestimmt.»
«Sie und Ruby sind also sehr gute Freundinnen gewesen?»
Daphne preßte ein Kleenex gegen ihre Nase. «Ja, schon. Aber wenn sie mir was erzählte, wollte
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