Inspektor Jury schläft außer Haus
Eindruck. «Erinnern? Warum, ja, natürlich. Ich meine, nicht genau.»
«Man hat Ihnen das so erzählt , stimmt’s? Ihre –»
«Ein kleiner Umtrunk?»
Erstaunt drehten sich beide um. Keiner von ihnen hatte Isabel hereinkommen hören. Sie stand in der Tür zwischen den zerfließenden Schatten und sah sehr geheimnisvoll und attraktiv aus – wenn auch etwas zu herausgeputzt für Jurys Geschmack. Ein grüner Jagdanzug aus Samt, russischer Bernstein und dieser silbergraue Nerz, den sie sich nachlässig über die Schulter geworfen hatte. «Wie fühlen Sie sich heute abend, Oberinspektor Jury?»
Jury erhob sich und verneigte sich leicht. «Ausgezeichnet, Miss Rivington.»
Sie trat in das Zimmer, ließ den Nerz auf einen Stuhl fallen und ging zu dem Büfett. «Darf ich mich dazusetzen?»
«Ja, natürlich», sagte Vivian nicht gerade begeistert, wie Jury auffiel. Ihre moralische Verpflichtung Isabel Rivington gegenüber gab ihr wohl diesen leicht verkniffenen Zug um den Mund.
Isabel goß sich eine tüchtige Portion Bourbon ein, dem sie ein paar Spritzer Soda hinzufügte, und kam dann zu ihnen zurück, um ihren Arm um Vivian zu legen und sie an sich zu ziehen. Die Geste wirkte auf Jury eher besitzergreifend als zärtlich. Dann ließ sie sich auf das Sofa plumpsen und versetzte den Kissen hinter ihr ein paar Knüffe. «Ihr macht so lange Gesichter. Habt Ihr denn bei Melrose kein anständiges Essen gekriegt? Ihr hättet mal zu Lorraines Party gehen sollen – da ging es üppig zu.»
«Das Essen bei Melrose war wunderbar», sagte Vivian etwas schnippisch. Jury registrierte zufrieden den rebellischen Unterton.
«Simon war nicht gerade glücklich über deine Abwesenheit», fügte Isabel beiläufig hinzu.
Vivian sagte nichts.
«Unglücklicherweise war auch Pfarrer Denzil Smith da, und wir mußten uns den ganzen Abend lang seine Geschichten über geheime Verstecke für Priester und Schmuggler in den Gasthäusern an der Küste anhören. Und die Geschichte der Wirtshausschilder. Die Morde haben ihn sehr beflügelt. Die übrige Zeit sprachen wir über die arme, alte Ruby. Ist es nicht schrecklich! Der Pfarrer sagte, Sie hätten das Haus von oben bis unten nach irgendeinem Armband durchsuchen lassen. Und nach dem Tagebuch des Mädchens.»
Jury erwiderte nichts darauf. Er wünschte nur, diese Dörfler würden sich ihre Puste für ihren Porridge aufheben. Jury schaute auf seine Uhr. «Vielen Dank für den Drink. Ich muß jetzt gehen.»
Vivian begleitete ihn hinaus, und er war schon auf dem Weg zu seinem Morris, als sie ihm nachrief: «Warten Sie!» Sie rannte nach oben und kam mit einem schmalen Bändchen zurück, das sie ihm hinstreckte. «Ich weiß zwar nicht, ob Sie sich für Lyrik interessieren … aber jemand, der Virgil zitiert, muß wohl …»
Er betrachtete den Band – eine Broschüre mit einem Umschlag aus dickem dunklem Papier, dessen Titel er in der Dunkelheit nicht lesen konnte. «Ja, ich mag Gedichte. Haben Sie das geschrieben?»
Sie war sichtlich verwirrt und schien überallhin zu blicken, nur nicht auf ihn. «Ja. Diese Gedichte sind von mir. Sie kamen vor drei oder vier Jahren heraus. Nicht gerade ein Bestseller, wie Sie sich wohl denken können.» Als er nicht antwortete, redete sie rasch weiter, als wolle sie den Raum zwischen ihnen ausfüllen. «Aber Sie haben wohl keine Zeit, neben Ihren Berichten noch etwas anderes zu lesen. So viele Gedichte sind es zwar auch nicht – ich produziere gar nicht so viel. Ich meine, überhaupt nur eines zu schreiben … es ist gar nicht so leicht.»
Sie verstummte, und Jury sagte: «Ich werde die Zeit dafür finden.»
Er verbrachte den Rest des Abends im Bett und las Vivians Gedichte. Sie waren keineswegs das Werk einer labilen, jungen Frau, die sich herumkommandieren ließ oder die sich davon abbringen ließ, den Mann zu heiraten, den sie heiraten wollte.
Und dann durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke – vielleicht war der springende Punkt der, daß Melrose Plant Vivian Rivington gar nicht heiraten wollte.
Das Buch fiel ihm aus der Hand, als er dann endlich einschlief. Daß jemand eine Frau wie Vivian Rivington nicht haben wollte, fand er einfach unbegreiflich.
XV Samstag, 26. Dezember
Bei einem aus Würstchen, Spiegeleiern und Bücklingen bestehenden Frühstück berichtete Wachtmeister Wiggins, er habe sich gestern nach Jurys Anruf auch gleich mit dem Yard in Verbindung gesetzt und die Adressen von zwei Leuten bekommen, die früher einmal für das Wirtshaus
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