Inspektor Jury spielt Domino
wimmelt es zwar von Zahnärzten, aber irgendwo muß doch was vorhanden sein. Ich kann einfach nicht glauben, daß sie in den ganzen Jahren keine einzige Spur hinterlassen hat, die von Gemma Temple zu Dillys March führt.»
Hartnäckig sagte Harkins: «Die Frau da hat verdammt gute Arbeit geleistet.»
«Warum ist die kleine March denn überhaupt abgehauen? Was ist passiert?»
«Sie setzte sich in ihr Auto und fuhr davon.»
Nicht sehr aufschlußreich, aber Jury hatte auch gar nichts anderes erwartet. «Und wie kam die Temple hierher? Mit dem Auto?»
Harkins nickte und zündete sich eine weitere kubanische Zigarre an. «Mit dem Auto ihrer Mitbewohnerin Josie Thwaite. Wir haben es genau untersucht. Brachte uns aber auch nicht weiter.»
«Gemma Temple muß Dillys March wohl ziemlich ähnlich gesehen haben?»
«Offenbar.» Harkins blies ein paar Ringe in die Luft. «Sie war ihre Doppelgängerin, man braucht sich nur die fünfzehn Jahre wegzudenken.»
Harkins öffnete den Umschlag, zog ein Foto aus einem Manuskripthalter und legte es wortlos auf den Tisch.
Jury betrachtete es. Der Schnappschuß zeigte ein sehr hübsches junges Mädchen, das sich gegen eine Steinmauer lehnte oder vielmehr davor posierte. Dunkles, glattes Haar, das bis zum Kinn reichte und leicht eingedreht war, Ponyfransen, dunkle Augen. Sie trug einen Reitanzug, hatte ziemlich ausgeprägte Gesichtszüge, schräge Augen und ein spitzes Kinn. Ihr Gesicht mit den nach oben gezogenen Mundwinkeln, die jedoch kein Lächeln bedeuteten, wirkte irgendwie verschlagen. Sie glich der Ermordeten oder, genauer gesagt, dem jungen Mädchen, das sie vor fünfzehn Jahren gewesen sein mußte, aufs Haar. «Ich nehme an, das ist Dillys, das Mündel?»
Harkins machte ein enttäuschtes Gesicht, als hätte Jury bei einem Test gemogelt. «Was veranlaßt Sie zu dieser Annahme?»
«Eigentlich nur der Reitanzug. Colonel Crael ist doch ein begeisterter Jäger. Es ist also anzunehmen, daß die Kleine sich angepaßt hat –» Jury verstummte. Harkins’ Feindseligkeit war nicht mehr zu übersehen. Er wechselte das Thema. «Vater und Sohn sind sich also nicht einig?»
Harkins nickte und zog einen kleinen silbernen Nagelknipser aus seiner Westentasche, als gäbe es im Augenblick nichts Wichtigeres für ihn als seine Maniküre.
«Erzählen Sie mir mehr von diesem Colonel Crael.» Ein zum Scheitern verurteilter Versuch.
«Reich. Steinreich. Seinem Vater wurde der Baronstitel verliehen. Die Craels hatten unter anderem auch eine Reederei. Er ist Master of Foxhounds. Soviel ich gesehen habe, gehört ihm halb Rackmoor. Der Ort steht unter Denkmalschutz.»
«Wie, das ganze Dorf?»
«Richtig. Anscheinend lohnt es sich, es zu erhalten.»
«Hat er Erben?»
«Einen. Es gibt nur einen, und das ist Julian Crael, sein Sohn.»
Wiggins hatte sich eine zweite Tasse Tee eingeschenkt; er dachte nach und rührte dabei um. «Die verlorene Tochter», murmelte er. Beide, Jury und Harkins, blickten ihn an. «Das war bestimmt die letzte Person, die sein Sohn sich nach so vielen Jahren herbeisehnte. Und über deren Rückkehr sich jeder im Dorf das Maul zerriß.» Er klopfte mit dem Löffel gegen seine Tasse und nahm einen Schluck.
Die Fahrt übers Moor mußte Wiggins’ Zunge gelöst und sein Gehirn mit Sauerstoff versorgt haben. Das war schon der zweite Kommentar innerhalb einer Stunde. «Da haben Sie wohl recht, er war sicher nicht begeistert», sagte Jury.
«Es würde auch erklären, warum der Sohn so energisch bestritt, daß sie diese March war», sagte Wiggins.
«Ja. Er kann natürlich auch recht haben. Ihre Geschichte klingt ziemlich unwahrscheinlich.» Harkins blickte auf, anscheinend das Schlimmste befürchtend – als erwarte er, noch weitere Dinge zu hören, auf die er selbst nicht gekommen war –, und Jury wechselte wieder das Thema. Er warf einen Blick auf die Fotos und sagte: «Das reinste Blutbad. Es ist kaum anzunehmen, daß der Mörder nicht auch ein paar Spritzer abgekriegt hat.»
«Wir fanden ein Stück Leinwand, das voller Blut war.»
Nett, daß Sie das sagen , dachte Jury grimmig. «Was für eine Leinwand war das denn?»
«Eine Malerleinwand. Wie man sie auf Keilrahmen spannt. Sie könnte aus Adrian Rees’ Beständen stammen. Aus seinem Studio oder wie er es nennt. Er hat im ‹Fuchs› große Reden über irgendwelche Mordgeschichten geschwungen.» Harkins zog ein weiteres Blatt Papier aus dem Umschlag und schob es Jury hinüber. «Das ist eine Liste mit Namen für
Weitere Kostenlose Bücher