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Inspektor Jury spielt Domino

Inspektor Jury spielt Domino

Titel: Inspektor Jury spielt Domino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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geworden.»
    Schweigend machten sie sich über ihr Essen her. Dann meinte Melrose: «Das Haus erinnert mich an Poes Usher. Ahnungslos fahre ich gegen Mitternacht die Auffahrt hoch –» Melrose hob die Hände, als wolle er ein Bild rahmen. «Die mächtige Silhouette des alten Herrenhauses taucht im fahlen Mondlicht vor mir auf. Knorrige Eichen spiegeln sich im dunklen See. In einer Mauer klafft ein Riß. Und Roderich – Julian in unserm Fall – spielt im Kerzenschein düstere Weisen auf dem Piano.»
    «War es so?»
    «Nicht ganz.»
    «Das Haus macht einen ganz realen Eindruck auf mich.»
    «Von Julian kann man das aber nicht behaupten. Er ist eher ein Schatten seiner selbst. Wie Nebel. Ich hab das Gefühl, ich könnte durch ihn hindurchgehen.»
    «Ich fand ihn zwar ziemlich melancholisch, aber nicht gerade schattenhaft.»
    «Vielleicht fehlt es Ihnen an Phantasie.»
    «Ja, wahrscheinlich. Ich bin nur ein stumpfsinniger Bulle. Aber Ihr Vergleich ist trotzdem sehr interessant: Roderich Usher.» Jury erinnerte sich an Lily Siddons’ Bemerkung. «Halten Sie denn Julian für leicht verrückt?»
    «‹Leicht verrückt.› Eine komische Formulierung. Ob man nun seinen Verstand oder seine Jungfräulichkeit verliert – in beiden Fällen bedeutet ein bißchen eigentlich alles.»
    «Sie können es formulieren, wie Sie wollen. Unausgeglichen, psychopathisch –»
    «Imstande, einen Mord zu begehen, meinen Sie das?»
    Jury winkte ab. «Man muß nicht verrückt sein, um einen Mord zu begehen. Mord ist eine ganz banale Sache. Ich versuche nur, diese Leute zu verstehen.»
    «Diese Familie ist mir ein Rätsel – sämtliche Craels, die lebenden und die toten.» Melrose stach mit seiner Gabel in eine gegrillte Tomate. «In diesem Haus begegnet man auf Schritt und Tritt der Vergangenheit. Sie leben in der Vergangenheit.»
    Jury bewegte den Bodensatz in seinem Weinglas. «Tun wir das nicht alle?» Er wandte sich ab. «Reden sie denn auch die ganze Zeit darüber?»
    «Nein. Sie reden über die Gegenwart, aber sie denken an Vergangenes. Als würden sie mit einem Auge ständig auf die Bilder der Verstorbenen blicken. Insbesondere auf das von Lady Margaret. Das wäre jemand, den ich gern kennengelernt hätte.»
    Jury lächelte. «Erwarten Sie wie in dem Fall von Lady Madeleine ein Kratzen am Sargdeckel zu hören?»
    «Wie makaber! Nein, das erwarte ich nicht. Aber ihre Gegenwart ist deutlich spürbar.»
    «Und die Gegenwart von Dillys March, ist die auch spürbar?»
    «Nicht so sehr. Vielleicht war sie zu jung, um den Dingen ihre Prägung zu geben. Aber sie gehört dazu, sie ist ein Teil dieser unheilsschwangeren Atmosphäre. Und Julian führt das Leben eines Mönchs; er könnte genausogut in einem Kloster leben. Er geht spazieren und hängt seinen Gedanken nach.»
    «Welchen Gedanken?»
    «Er hat mir nicht sein Herz geöffnet. Falls er überhaupt eines hat.»
    Jury sah ihn vor sich, wie er am Kamin lehnte. «Oh, ich denke schon, daß er eines hat.»
    «Aber von der hiesigen Damenwelt kann bestimmt keine Anspruch darauf erheben.»
    Bertie war mit dem Dessert, einer Pflaumentorte, zurückgekommen. Während er die Teller wegräumte, fragte ihn Jury: «Sag mal, Bertie, wie lange ist deine Mutter schon weg?»
    «Bald drei Monate.»
    «Eine lange Zeit, wenn man ganz allein ist.»
    Jury schaute ihn an; es war jedoch unmöglich, etwas von seinen Augen ablesen zu wollen, da sie von den dicken Brillengläsern völlig verdeckt wurden. Und der Rest seines kleinen, spitzen Gesichts war ziemlich ausdruckslos. Vielleicht machte es ja auch Spaß, mit zwölf Jahren einmal allein gelassen zu werden und keine ständig nörgelnde Mutter um sich herum zu haben. Vorausgesetzt, man wußte, daß sie zurückkommen würde.
    «Komisch, daß deine Mutter nicht für deine Betreuung gesorgt hat.»
    «Oh, das hat sie, Sir», versicherte ihm Bertie schnell. «Stock –ich meine Miss Cavendish. Und Miss Frother-Guy. Sie sind auch ganz gewissenhaft – immer auf dem Posten.»
    Jury unterdrückte ein Lächeln. Bertie ließ keinen Zweifel daran, was er von dieser Bevormundung hielt. «Sie ist nach Irland gefahren?»
    «Nach Nord irland», betonte Bertie, «zu ihrer Oma. Ich glaube, ihre Oma war für sie so was wie ’ne Mutter. Als sie krank wurde, konnte sie hier nichts halten.»
    «Ja, schön. Aber dich so ganz allein zu lassen –»
    «So allein bin ich gar nicht. Arnold ist auch noch da. Und wie ich schon sagte, Miss Cavendish –»
    «Wo in Nordirland lebt denn ihre

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