Inspektor Jury spielt Domino
wäre sie das nicht? Sie sah ja ziemlich gut aus, und außerdem war’s ein neues Gesicht. Eines Nachts, als der ‹Fuchs› gerade dichtgemacht hatte, ging sie noch spazieren, und ich folgte ihr. Sie ging an der Kaimauer entlang in Richtung Old House. Ich holte sie ein, wir sprachen miteinander, und ich schlug ihr vor, den letzten Drink bei mir zu nehmen. Nicht gerade originell, aber was anderes fiel mir nicht ein. Rackmoor ist leider nicht das Sodom und Gomorrha von England. Wir landeten also hier.»
«Und dann?»
«Was ‹und dann›? Das können Sie sich doch wohl denken. So viele Möglichkeiten gibt’s wohl nicht.»
«Sie brauchten sie wohl nicht lange zu überreden?»
«Inspektor, ich brauchte sie überhaupt nicht zu überreden. Und ich halte mich nicht gerade für unwiderstehlich.»
Wie bescheiden, dachte Jury. Adrian Rees war geradezu ein Ausbund von Männlichkeit, und die Tatsache, daß er Maler war, verlieh ihm auch noch einen gewissen exotischen Zug. «An welchem Abend war das?»
«Zwei Nächte vor dem Mord.» Adrian lächelte grimmig.
«Hat sie Ihnen was über sich erzählt?»
«Nichts, und das ist die reine Wahrheit. Nichts, was ich Ihnen nicht schon erzählt hätte. Sie lief mit einem Drink in der Hand im Atelier herum, sah sich meine Bilder an und machte irgendwelche blödsinnigen Bemerkungen; wahrscheinlich dachte sie, ich würde das von ihr erwarten. Und sie äußerte sich über das Dorf – etwas öde, fand sie. Aber schließlich haben wir ja nicht nur geredet», Adrian lächelte spitzbübisch.
«Sie hat nicht erwähnt, daß sie schon einmal hier gelebt hat?»
Adrian schüttelte den Kopf. «Als sie am nächsten Abend bei dem kleinen Essen auftauchte, war ich derjenige, der zu stottern anfing und rot wurde. Man hätte denken können, sie hätte mich noch nie in ihrem Leben gesehen. Ich hatte keine Ahnung, daß sie eine Cousine der Craels war.»
«Was wissen Sie über Dillys March?»
«Sie meinen das Mündel der Craels, dieses Mädchen, das eines Tages verschwunden ist?» Jury nickte. «Nur, was der Colonel über sie erzählt hat. Über sie, Lady Margaret und seinen Sohn Rolfe. Als ich dieses Porträt von Lady Margaret malte, saß er häufig hier im Atelier … Was meinen Sie denn genauer?»
Jury gab keine Antwort. «Sind Sie sicher, daß Sie Gemma Temple nicht früher schon mal gesehen haben – bevor Sie nach Rackmoor kamen?»
Adrian starrte ihn wütend an. «Verflucht, natürlich bin ich mir sicher!»
Jury lächelte kurz. «Regen Sie sich nicht auf. Es wäre nicht das erste Mal, daß Sie was verschweigen.» Er blickte in die dunkle Ecke, in der sich die Katze putzte. «Haben Sie das Bild von Gemma Temple fertiggemalt? Ich würde es gerne sehen.»
«Nein, aber ich war gerade dabei, als Sie kamen.»
Jurys Blick wanderte nach unten. «Mit einem trockenen Pinsel?»
Der Ärger, der sich bereits aus seinem Gesicht verflüchtigt hatte, kehrte wieder zurück. «Mein Gott, Ihnen entgeht auch nichts.»
«Dafür werde ich schließlich bezahlt. Bis bald.»
16
Über der Tür des Cafés «Zur Brücke» bimmelte ein kleines Glöckchen, als Jury eintrat. Der Raum war ziemlich klein, hatte eine tiefe Holzbalkendecke und weißgetünchte Wände; um die Tische standen kleine Stühle mit leiterförmigen Rückenlehnen. Auf einer breiten Anrichte stand ordentlich gestapelt blaues und weißes Porzellan. Ein hübscher, sehr sauberer Raum, in dem niemand zu sehen war. Aber mitten im Winter waren wohl auch keine Gäste zu erwarten.
Lily Siddons erschien; sie hatte ein Kopftuch umgebunden, das ihr helles Haar verdeckte, und trug eine Schürze. Jury nahm an, daß sie aus der Küche kam. «Oh, guten Morgen.»
Er tippte an seinen Hut und war überrascht, als er den weichen Stoff fühlte. Er hatte vergessen, daß er seinen Tweedhut aufgesetzt hatte. «Miss Siddons, dürfte ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?»
Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. «Natürlich, ich habe nichts dagegen, wenn Sie nichts dagegen haben, mit in die Küche zu kommen; ich könnte dann dabei weiterarbeiten.»
In der Küche sah er, daß sie gerade Gemüse klein geschnitten hatte. Jury zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Sie arbeitete an einem Holztisch, einer riesigen Fleischerbank in der Mitte des Raums. «Ich möchte mit Ihnen über Ihre Mutter sprechen.»
Einen Augenblick lang schwieg sie. Dann sagte sie: «Ich kann mir nicht vorstellen, warum.» Sie nahm eine Kaffeetasse vom Tisch und schüttete den
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