Inspektor Jury spielt Domino
wie ein Schlachtfeld aussah, strahlte die Küche – vermutlich der einzige Ort, an den sie sich zurückziehen konnte – vor Sauberkeit. Auf dem Küchenbord standen ein Glas Marmite, Brotscheiben und eine Biskuitrolle als Lunch für den Jungen. Während sie den Tee aufgoß, bestrich Jury eine Brotscheibe und schob sie dem Jungen ohne viel Getue einfach in den Mund. Gerrard würgte und kicherte wieder. Er schien es ulkig zu finden, von einem Fremden und noch dazu von einem Polizisten so hart angefaßt zu werden.
Mrs. Rainey drückte Jury einen Becher Tee mit viel Milch in die Hand. «Ach, übrigens, ich heiße Angela. Sie kommen wegen Gemma, nicht wahr? Der andere Polizist, der hier war, hat Mama irrsinnig viele Fragen gestellt.»
«Ja, es tut mir wirklich leid, daß ich Sie noch einmal belästige, aber ich dachte, vielleicht ist Ihrer Schwiegermutter oder Ihnen noch etwas eingefallen, was uns weiterhelfen könnte.»
Angela Rainey schüttelte den Kopf. «Wirklich, ich glaube, da war nichts weiter. Glauben Sie mir, wir haben es zigmal durchgesprochen. Wissen Sie, Gwen meinte, daß ihr erst jetzt, nachdem das alles passiert ist, auffällt, wie wenig sie eigentlich über Gemma Temple wußte. Ich weiß auch nicht viel mehr, und ich glaube, ich habe sie besser gekannt als Mama. Wissen Sie, Gemma und ich waren ungefähr im selben Alter. Wir wohnten Tür an Tür. Ich meine, vor Jahren, als wir noch alle in Dulwich wohnten.»
Gerrard brüllte: «Ich will Schoko in die Milch!», und seine Mutter ging zum Kühlschrank, nahm eine Flasche und eine kleine Dose mit Hershey-Schokolade heraus.
«Hat Gemma Temple denn nie über die Zeit gesprochen, bevor sie als Au-pair-Mädchen zu Ihnen kam?»
Angela schüttelte den Kopf, als sie Gerrards Hand von der Biskuitrolle schlug. «Sie sagte, sie sei bei einer alten Tante aufgewachsen, und die wäre tot. Danach war sie für eine Weile im Heim. Aber wir können uns an den Namen nicht erinnern. Wenn es überhaupt stimmt …»
Gerrard, dem es mal mit Geheul, mal mit Gejuchze gelungen war, den Geräuschpegel aufrechtzuerhalten, sah, daß seine Mühen nicht gebührend beachtet wurden; er gab auf und schlief ein. Sein Kinn sank auf seine Brust.
«Wie alt war sie, als sie zu den Raineys kam?»
Angela dachte nach. «Ich würde sagen, knapp neunzehn.»
«Was war mit ihrem Geburtstag?»
«Geburtstag?»
«Ja, hat sie ihn nie gefeiert?»
«Komisch. Ich glaube nicht, daß sie das tat. Komisch, ich kann mich nicht daran erinnern, daß überhaupt von ihrem Geburtstag die Rede war.»
«Nie von Verwandten gesprochen?»
«Nein. Sie sagte, sie sei Waise.»
«Auch Waisen haben eine Vergangenheit.»
«Nicht Gemma. Glauben Sie mir, das hat mich auch gewundert. Gemma war sehr verschwiegen.»
«Gab es denn etwas Ungewöhnliches, etwas, woran man sich erinnert? Ich meine, besondere Gewohnheiten, auffälliges Verhalten, Neigungen, Abneigungen – diese Art Dinge.»
Angela schaute Jury über den Rand ihrer Tasse an. «Nur Männer. Es schien, ihre einzige ‹Neigung› waren die Männer. Glauben Sie, es gab in ihrer Vergangenheit etwas, weshalb sie umgebracht wurde?»
«Ja, das könnte schon sein. Treffen – trafen Sie sich mit ihr?»
«Ja, sie kam ein- bis zweimal im Jahr vorbei. Vor einem Monat war sie noch hier. Wir haben recht nett geplaudert. Gemma bildete sich ein, sie sei Schauspielerin, und sie hatte gerade eine kleine Rolle in einem Stück ergattert. Das war noch im Sommer. Es war das letzte Mal, daß ich sie sah. Arme Gemma.»
«Und die Männer. Haben Sie welche gekannt?» Angela schüttelte den Kopf. «Etwas anderes: Konnte sie fahren?» Angela sah verwirrt aus. «Ich meine, hatte sie einen Führerschein?»
«Ah ja, jetzt, wo Sie das fragen, fällt es mir ein: Nein, sie konnte nicht fahren. Das alles ist so komisch. Die ganze Zeit, während sie hier war, hat sie nicht fahren gelernt. Aber es hieß doch, sie hätten ihren Wagen gefunden, oder?»
«Ja.»
Angela schaute zum Küchenbord und knallte ihre Tasse auf den Tisch. «Nun sieh dir das an! Willst du wohl! Wo ist meine Biskuitrolle geblieben?»
Gerrards Mund war verschmiert mit Schokolade; er tat, als würde er schlafen, und versuchte, nicht zu lachen.
Als nach einer gewaltigen Ohrfeige ein noch gewaltigeres Geschrei einsetzte, verabschiedete sich Jury und verließ das Haus.
7
Victor Merchent saß ohne Jackett, nur in Unterhemd und Hosenträger, da und streichelte abwechselnd seinen Bauch und seinen Hund, als wäre der eine
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