Inspektor Morse 07 - Huete Dich vor Maskeraden
den Zustand angenehmer Trunkenheit hätte beschreiben sollen, so war es vor allem ein Gefühl großer innerer Ruhe, als säße er am Ufer eines ungeheuren Meeres und schaute unverwandt zu, wie der mächtige Herr der Gezeiten die schaumgesäumten Wasservorhänge langsam erst auf ihn zu und dann wieder von ihm wegzöge, zurück zur ewigen See.
Aber ob nun mit oder ohne Alkohol, soviel war klar , er mußte anfangen, sich ein paar ernsthafte Gedanken zu machen — und zwar bald. Das schwierigste Problem im Moment für ihn war, eine Erklärung dafür zu finden, wie es zugehen konnte, daß jemand, der auf einem Brief im Absender eine falsche Adresse angegeben hatte, unter eben dieser falschen Adresse den Antwortbrief zugestellt bekam. Einen Brief mit fiktiver Adresse wie zum Beispiel «Buckingham Palace, Kidlington» abzuschicken, war natürlich keine Schwierigkeit, aber wie um alles in der Welt schaffte man es, sich unter dieser Adresse einen Brief zustellen zu lassen? Aber genau das war geschehen — jedenfalls sah es ganz danach aus: Mrs. Ballard (oder wie sie nun tatsächlich heißen mochte), die Ehefrau (oder angebliche Ehefrau) des Ermordeten, hatte sich in einem Brief an das Hotel Haworth gewandt, um eine Zimmerreservierung gebeten und um schriftliche Bestätigung ersucht — doch die von ihr im Absender angegebene Adresse existierte gar nicht, wie sich herausgestellt hatte. Trotzdem hatte die Nachricht des Hotels sie offenbar erreicht, denn am 31. waren die Ballards im Hotel erschienen. Sie hatten (nebenbei gesagt, mit durchschlagendem Erfolg) an den Vergnügungen des Abends teilgenommen und waren, nachdem sie mit den anderen Gästen Wünsche für ein glückliches, erfolgreiches neues Jahr ausgetauscht hatten, zusammen mit den Palmers, den Smiths und Binyon zur Dependance hinübergegangen. Und dann...
«Haben Sie mich vergessen, Sir?» fragte eine Stimme über ihm vorwurfsvoll.
«Lewis! Endlich — Sie kommen reichlich spät!»
«Wir wollten uns vor dem Haus treffen!»
«Ich war da und habe geklingelt, aber es war offenbar niemand zu Hause.»
«Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen, das weiß ich schon, was glauben Sie, wo ich war?»
«Wieviel Uhr haben wir eigentlich?»
«Zwanzig Minuten nach elf Uhr.»
«Meine Güte, schon so spät. Tut mir leid, daß Sie so lange gewartet haben, Lewis. Holen Sie sich ein Bier, und bringen Sie mir auch noch eins mit, bitte. Ich bin im Moment etwas knapp mit Geld.»
«Bitter?»
Morse nickte. «Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?»
«Ich bin Polizist — oder haben Sie das auch vergessen, Sir?» gab Lewis aufmüpfig zurück.
Es hätte jedoch mehr gebraucht als Morses gelegentliche Anwandlung von Geiz oder seine reichlich großzügige Vorstellung von Zuverlässigkeit, um Lewis’ gute Laune an diesem Morgen einen Dämpfer zu versetzen. Er berichtete dem Chief Inspector in aller Ausführlichkeit noch einmal vom Auffinden der Brille, dem Besuch beim Optiker, und im Gegenzug erzählte Morse seinem Sergeant alles über seine Begegnung mit Philippa Palmer — oder doch jedenfalls fast alles. Um Viertel vor zwölf Uhr unternahm Lewis erneut einen Abstecher zur Eddleston Road, aber wieder vergeblich. Eine halbe Stunde später jedoch, als er sich, mit Morse zusammen, nun schon zum drittenmal dem Haus näherte, sahen sie schon von weitem, daß im ersten Stock ein Fenster offen war — offenbar mußte also inzwischen jemand nach Hause gekommen sein. Die Smiths waren die einzigen Bewohner in der Straße, die es offenbar nicht für nötig befunden hatten, ihren Vorgarten zu bepflanzen. Statt dessen hatten sie, ebenso praktisch wie nüchtern, die freie Fläche vor ihrem Haus mit Kies bestreuen lassen. Das Knirschen ihrer Schritte hätte Mrs. Smith vor der Ankunft der beiden Polizeibeamten warnen können, doch sie war wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auf Geräusche von außen zu achten. Sie wurde auf ihre Besucher erst aufmerksam, als sie klingelten.
Kapitel Zweiundzwanzig
FREITAG, 3. JANUAR
Der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht.
Deutsches Sprichwort
Während der vergangenen fünf Jahre hätten ihr Mann John und sie, wie Helen Smith freimütig zugab, Dutzende von Hotels um das diesen zustehende Geld geprellt. Leider hätten weder sie noch ihr Mann die finanziellen Mittel, den Schaden zu ersetzen, und so gut sie verstehen könne, daß die Gesellschaft ihnen eine Rechnung aufmache und Anspruch darauf habe, daß sie in irgendeiner Form Entschädigung
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