Instinkt
lange hat es gedauert, bis Sie Roisíns Leiche entdeckt haben?«
Tina drohte langsam der Boden unter den Füßen wegzugleiten. Der Wodka tat seine Wirkung, und sie brauchte ein paar Sekunden, ehe sie sich erinnerte. Roisín war das vierte Opfer gewesen, eine junge, attraktive blonde Frau, Ende zwanzig, die Gott sei Dank davon verschont geblieben war, im Sterben auch noch gefilmt zu werden. »Ich denke, es war am Tag darauf. Die Putzfrau besaß einen Schlüssel und hat sie gefunden.«
»Das heißt also, Sie haben den ziemlich genauen Zeitpunkt ihres Todes, nicht wahr?«, fragte Kent und sah sie erwartungsvoll, fast begierig an.
»Ziemlich genau, ja. Aber jetzt sagen Sie mir, worauf Sie hinauswollen.«
Er holte tief Luft. »Zum Zeitpunkt von Roisíns Ermordung hatte ich selbst einen Trauerfall in der Familie. Mein Vater ist gestorben, und ich war gerade von seiner Beerdigung zurück, als ich in den Nachrichten hörte, was mit ihr geschehen war. Ich weiß, dass es der Tag nach meiner Rückkehr war, und ich schätze mal, das muss einen Tag nach der Entdeckung ihrer Leiche gewesen sein. Was bedeutet, dass ich mich am Tag ihrer Ermordung auf dem Begräbnis meines Vaters befand.«
Tina sah Kent scharf an, wurde aber plötzlich unsicher. »Und?«
»Die Beerdigung war in Inverness, wo mein Vater nach der Scheidung von meiner Mutter die letzten zwanzig Jahre gelebt hat. Ich bin mit Easyjet hin- und wieder zurückgeflogen. Insgesamt war ich drei Tage dort, und es gibt bestimmt fünfzig Zeugen, die mich in der Kirche gesehen haben, als ich angeblich sechshundert Meilen entfernt in London jemanden ermordet haben soll. Was ich damit sagen will, DI Boyd: Ich verkünde Ihnen, dass ich ein Alibi für den Mord an Roisín O’Neill habe.«
Sein Gesicht zerfloss förmlich vor Erleichterung und Euphorie.
»Ich habe ein Alibi.«
DREIZEHN
Die schlichte Wahrheit war: Ich hatte zwei Männer angeschossen und schwer verwundet, während ich eine nicht genehmigte Operation durchführte. Es mochte Notwehr gewesen sein, aber das würde weder meine Karriere retten noch mich vor einer Freiheitsstrafe bewahren. Und mein Gewissen beruhigte es auch nicht. Ich hatte das Gesetz in die eigenen Hände genommen und ignoriert, dass ich geschworen hatte, es zu respektieren. Und jetzt war die Sache außer Kontrolle geraten.
Ich überlegte, was wohl als Nächstes passieren würde. Normalerweise folgen Undercover-Operationen einem vorgegebenen Schema, das schließlich zur Festnahme führt. Sobald ich das Vertrauen der Zielpersonen gewonnen hatte, benutzte ich das Aufnahmegerät, um belastendes Material über geplante Verbrechen zu sammeln. Hatte ich genug, informierte ich meine Kollegen, und während ich mich zurückzog und in Sicherheit brachte, erledigten sie die Verhaftung. Benötigten wir allerdings bessere Beweise, ließen wir die Zielpersonen für gewöhnlich das Verbrechen verüben, wobei ich meist beteiligt blieb, und nahmen sie auf meine Zeichen hin während der Tat selbst oder unmittelbar danach fest. Aus meiner Sicht sind dies die erfolgreichsten Operationen, zumal ich in der Regel mit den Gangstern zusammen festgenommen werde und wir keine aufgezeichneten Beweismittel benutzen müssen. Dadurch bleibt meine Tarnung intakt.
Den Zielpersonen zu gestatten, ihre Tat auszuführen und dabei zuzuschlagen, birgt ernsthafte Risiken, besonders wenn Waffen im Spiel sind und einer der Bewaffneten ein Undercover-Cop ist. Deshalb würden meine Vorgesetzten mir nie erlauben, gemeinsam mit Wolfe und seinen Männern die Entführung durchzuziehen. Das bedeutete, ich musste abwarten, bis ich genau wusste, wann und wo die Aktion stattfinden würde; dann erst konnte ich Captain Bob informieren. Das war zwar nicht unbedingt der cleverste Plan, doch ich hatte keinen besseren.
Nach dem Treffen mit Wolfe und Haddock fuhr Tommy mich nach Hause. Unterwegs versuchte ich noch einmal, etwas aus ihm herauszukriegen, aber er verriet nichts.
Das Ganze war einigermaßen ungewöhnlich, denn nach allem, was wir über Tyrone Wolfe wussten, war er der Boss seiner verschworenen kleinen Truppe, die letztlich nur aus ihm, Haddock und Tommy bestand. Normalerweise plante er seine eigenen Operationen und arbeitete nicht für Dritte, denn das war meist der sicherste Weg, gefasst zu werden. Was wiederum hieß, die drei mussten eine Menge mehr über ihren Coup wissen, als sie mir verrieten. Ich musterte Tommys Miene, doch wie auch Wolfe ließ er sich nicht in die Karten sehen.
Um
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