Instinkt
klar und deutlich zu formulieren, um nicht den Verdacht zu wecken, sie könnte angetrunken sein. »Was gibt es?«
»Andrew Kent. Er will mit Ihnen sprechen. Ich habe keine Ahnung, worum es geht, aber er sagt, es sei dringend und er würde nur mit Ihnen reden.«
Rodriguez klang feindselig, aber Rodriguez konnte sie ja auch nicht leiden und hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass Tina nach ihrem Geschmack prominenter war, als ihr guttat.
Bis zur gerichtlichen Anhörung am morgigen Vormittag war Kent im Zellenblock der Holborn Station untergebracht, danach würde er in eines der Hochsicherheitsgefängnisse der Hauptstadt überstellt werden. Obwohl das britische Gesetz es der Polizei verbot, einen Beschuldigten nach der Anklageverlesung noch weiter zu befragen, kann ein Beamter trotzdem mit ihm sprechen, wenn der Beschuldigte dies verlangt. Normalerweise will er dann ein Geständnis ablegen.
»Okay«, sagte sie, erleichtert, dass sie völlig nüchtern klang. »Sobald ich hier fertig bin.«
Nachdem die Tür sich geschlossen hatte und Rodriguez verschwunden war, kam Tina langsam auf die Beine.
ZWÖLF
Als Tina durch die Überwachungsklappe schaute, saß Andrew Kent mit baumelnden Beinen, den Kopf in den Händen vergraben, auf seiner Pritsche am anderen Ende der Zelle. Es war die klassische Haltung des Unschuldigen, wie man es auf keiner Schauspielschule besser lernen konnte.
»Kommen Sie mit dem da drinnen zurecht?«, fragte der wachhabende Sergeant, ein übergewichtiger Waliser mit einem grauenerregenden Seitenscheitel, dessen Namen sie sich nie merken konnte. Trotzdem schien der Waliser eine Schwäche für sie zu haben. »Ich weiß, Sie sind so eine Powerfrau, aber Sie müssen vorsichtig sein.« Dabei zwinkerte er heftig, um zu demonstrieren, dass er sie nur auf den Arm nehmen wollte.
»Ich schaffe das schon, danke«, antwortete sie, wobei sie vermied, ihn anzuatmen. Er gehörte zu der Sorte, die es riechen und auf der Stelle Meldung machen würde. Schwäche hin oder her.
Als die Tür aufschnappte, ging sie hinein. Kent hob den Kopf, den er in den Händen vergraben hatte, und schaute zu ihr auf. Dabei strich er sich eine dichte Strähne aus der Stirn. Seine Augen waren rot und verquollen, er hatte geweint und sah jetzt aus wie ein Siebzehnjähriger.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er und lächelte sie respektvoll an.
Sie stand breitbeinig in der Mitte der Zelle und war eher angewidert als verängstigt. »Kein Problem. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin unschuldig, DI Boyd.«
»Nun, ich möchte Ihnen nicht den Tag ruinieren, Mr. Kent, aber die meisten Leute, die ich einsperre, behaupten das. Und meistens lügen sie. Bei Ihnen wird eine Jury darüber entscheiden, ob Sie die Wahrheit sagen oder nicht, aber meiner unmaßgeblichen Meinung nach würde ich sagen, dass Sie angesichts der belastenden Indizien nicht den Hauch einer Chance haben, freigesprochen zu werden. Wenn Sie also sonst nichts zu sagen haben …«
»Ich kann beweisen, dass ich unschuldig bin.«
Er sagte das ruhig und sah ihr dabei fest in die Augen.
»Wie?«
»Ich erinnere mich an eines der Opfer. Ihr Name war Roisín O’Neill. Sie war sehr freundlich zu mir, während ich die Alarmanlage eingebaut habe«, sagte er und fügte dann hastig hinzu: »Aber nicht auf die Komm-schon-Süßer-Tour, müssen Sie wissen.« Als würde Tina sonst etwas hineininterpretieren. »Nein, einfach nur freundlich, verstehen Sie? Sie hat an mir den Menschen gesehen und nicht bloß einen Typ, der einen Auftrag ausführt. Wir haben uns eine ganze Weile unterhalten, und ich erinnere mich, dass sie mir erzählte, Roisín sei gälisch und bedeute ›blühende Rose‹.«
»Kommen Sie zur Sache, Mr. Kent.«
»Ja. Aber deshalb erinnere ich mich besser an sie als an die anderen. Ich weiß noch, ich habe es in der Zeitung gelesen und in den Nachrichten gesehen und war richtig schockiert.« Er schüttelte erschöpft den Kopf, und Tina musste sich beherrschen, ihn nicht anzublaffen, er solle sich seine theatralischen Reden sparen. Ganz gleich wie gut er war, langsam hatte sie seine Schauspielereien satt.
»Und ich weiß auch nicht, weshalb ich mich nicht schon früher daran erinnert habe. Vielleicht wegen des Schocks, für etwas verhaftet zu werden, das ich nicht getan habe. Aber jetzt hatte ich ja einige Zeit zum Nachdenken. Und da ist mir etwas sehr Wichtiges eingefallen.« Er hielt inne und schaute sie an. »Kann ich Sie etwas fragen?«
»Was?«
»Wie
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