Instinkt
wollte er alle anderen Monster vor ihm ausstechen.
Er hat seine Opfer gefilmt, während sie starben. Zu seinem Vergnügen. Damit er sich später in der Behaglichkeit seiner Wohnung jederzeit an ihrem Todeskampf ergötzen konnte, so oft er wollte.
Wie eine Masochistin, die den Schmerz braucht, ließ sie den Film wieder und wieder in ihrem Kopf ablaufen, lauschte den würgenden, verzweifelten Lauten von Adrienne Menzies, bis sie endlich heftig den Kopf schüttelte, um die Bilder aus ihrem Kopf zu verbannen.
Sie brauchte einen Drink. Dringend. Dringender als sonst. Jedenfalls in letzter Zeit. Normalerweise trank sie nie während der Arbeit; sie zog es vor, bis zum Abend zu warten, ehe sie die Bremsen löste und sich dem friedlichen Vergessen hingab. Was dies betraf, hatte sie ihre Sucht stets unter Kontrolle halten können, weshalb keiner ihrer Kollegen auch nur auf die Idee kam, ein Problem bei ihr zu vermuten. Gelegentlich allerdings, wenn es richtig übel wurde, überwältigte das Verlangen sie mit so unversöhnlicher Macht, dass sie sich ergeben musste. Es war wie bei einem nächtlichen Sondereinsatzkommando. Je mehr sie sich dagegen sträubte, desto unbarmherziger wurde der Druck. Bis ihr keine andere Wahl mehr blieb, als zu kapitulieren.
Sie zog einen einzelnen Schlüssel aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und schloss die unterste Schublade ihres Schreibtisches auf. Sie stöberte kurz in den Akten, bis sie gefunden hatte, was sie suchte: eine Halbliterflasche Smirnoff Red Vodka sowie ein angebrochenes Päckchen Fisherman’s Friend. Sie ließ beides in die Innentasche ihrer Jacke gleiten, damit niemand die Flasche sehen konnte, stand auf und ging durch den Konferenzraum, wo sie einigen der noch anwesenden Teammitglieder ein paar kurze Instruktionen gab, ehe sie sich auf den Weg zur Toilette machte. Sie riskierte verdammt viel, doch die Vorfreude auf den schnellen, erlösenden Schluck war überwältigend.
Die Damentoilette war verlassen, und sie schloss sich in die Kabine ein, die am weitesten vom Eingang entfernt lag. Noch bevor sie die Tür verriegelt hatte, schraubte sie den Verschluss ihrer Flasche ab. Sie ließ sich auf die Brille sinken und setzte die Flasche an die Lippen. Doch da, mit dem Hals kaum einen Zentimeter von ihrem Mund entfernt, zögerte sie einen Moment lang und fragte sich, was sie hier eigentlich tat. Sie wollte das nicht. Abhängig zu sein von etwas, das sie früher oder später zerstören würde. Es bedurfte nur einer überraschenden Urinprobe, und ihre Karriere war im Eimer. Man würde sie sofort suspendieren, und alles, wofür sie hart gearbeitet hatte, wäre dahin, bloß wegen eines schnellen Schlucks, dessen befriedigende Wirkung morgen schon vergessen sein würde.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, eine lange zurückliegende Zeit, als sie einen Freund hatte, den sie gemocht, vielleicht sogar geliebt hatte. Da hatte sie das nicht nötig gehabt. Sie konnte John nicht wieder zum Leben erwecken, aber sie konnte einen Neuanfang versuchen. Dem Schnaps abschwören, von vorne beginnen, vielleicht sogar einen neuen Job suchen …
Ich höre auf, redete sie sich ein, demnächst. Wenn die Lage sich ein bisschen beruhigt hat und ich die Chance habe, meinen Kopf zu ordnen.
Dann nahm sie einen ordentlichen Schluck, mindestens einen doppelten, und kniff die Augen zusammen, während er in ihrer Kehle brannte und der Alkohol langsam ins Blut strömte. Sie hielt inne, sie war diszipliniert genug, um es nicht zu übertreiben, weil sie keine Aufmerksamkeit wecken wollte, doch sie nahm einen zweiten, noch größeren Schluck und schwor sich, dies würde der letzte sein.
Sie lehnte gegen die Wand und seufzte, wartete darauf, dass die Wirkung eintrat. Überlegte, ob sie riskieren konnte, einen weiteren zu nehmen oder Schluss zu machen und draußen noch eine zu rauchen, ehe sie nach Pfefferminz duftend an ihren Schreibtisch zurückkehrte.
Sie überlegte noch immer, als die Tür der Damentoilette aufging und jemand hereinkam. Tina erstarrte wie ein ungezogenes Schulmädchen, ehe ihr klarwurde, dass sie in der Kabine nicht gesehen werden konnte. Also konnte auch niemand bemerken, was sie tat.
»Ma’am«, rief eine weibliche Stimme, die unsicher klang und peinlich berührt. »Sind Sie hier drin?«
Es war Anji Rodriguez.
Tina spürte, dass es um etwas Wichtiges ging, und schob die Flasche zurück in ihre Innentasche. Dann holte sie tief Luft. »Ich bin hier drinnen«, rief sie, wobei sie darauf achtete,
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