Instinkt
genervt.
»Was glauben Sie?«, blaffte ich zurück. »Weil ich mich für ihn interessiere.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann, aber eines sage ich Ihnen, Sean.« Er wedelte mit seinem langen knochigen Finger vor meiner Nase herum. »Ich will nicht, dass Sie weiter Tyrone Wolfe oder einem seiner mutmaßlichen Komplizen hinterherspionieren. Sollte ich hören, dass Sie es trotzdem tun, hat das Konsequenzen. Das verspreche ich Ihnen. Vermischen Sie nicht Ihr Privatleben mit Ihrer Arbeit.«
Ich konnte nichts weiter tun, als den Rückzug anzutreten. Doch nachdem drei Monate später immer noch keine Undercover-Operation gegen die Wolfe-Bande genehmigt worden war, wusste ich, ich musste es selbst tun. Allein.
Und dummerweise tat ich genau das.
ELF
Für Tina Boyd hätte es eigentlich ein angenehmer, erfolgreicher Nachmittag sein sollen. Die Festnahme Andrew Kents und die anschließende Anklageerhebung auf Grundlage der Indizien, die man bei der Durchsuchung seiner Wohnung und seiner Festplatte gefunden hatte, waren ein grandioser Erfolg für das Team. Als der Papierkram endlich erledigt und die erste Stufe des Falles abgeschlossen war, herrschte im Konferenzraum eine an Euphorie grenzende Atmosphäre.
Doch Tina teilte diesen Freudentaumel nicht. Sie saß in ihrer schuhkartongroßen Arbeitsbox an der Stirnseite des Konferenzraums und spürte stattdessen, wie sich eine schwere schwarze Wolke auf sie niedersenkte. Sie lauschte dem Lärm und den Unterhaltungen, die von draußen hereindrangen, und fühlte sich als die Außenseiterin, die sie immer gewesen war. Nicht dass sie glaubte, Kent wäre unschuldig. Nein. Während der Vernehmung hatte sie ein merkwürdiger Zweifel beschlichen, aber den schrieb sie jetzt den oscarreifen schauspielerischen Fähigkeiten zu, die sie bei ihm vermutete. Nur einmal in ihrer Laufbahn war Tina jemandem begegnet, der so überzeugend unschuldig gewirkt hatte wie Andrew Kent. Das war ein Mordverdächtiger, den sie während ihrer Zeit bei der Mordkommission Islington festgenommen hatten, nachdem seine Frau nach einer Reihe gewalttätiger Auseinandersetzungen verschwunden war. Es stellte sich heraus, dass der Mann die Wahrheit gesagt hatte.
Dennoch hielt Tina die Beweise gegen Kent für zu erdrückend, um an seine Unschuld zu glauben. Natürlich war es theoretisch möglich, dass ihm jemand den Hammer und die Aufnahmen von den Morden untergeschoben hatte. Doch das konnte nur der Mörder selbst oder ein Komplize bewerkstelligt haben, und woher sollte der wissen, wer Kent war. Nur die Mitglieder der Sonderkommission kannten Kents Identität, und auch sie hatten diese erst vor wenigen Tagen herausgefunden. Seitdem hatte er unter konstanter Beobachtung gestanden, was eine Manipulation der Beweismittel extrem erschwert hätte.
Die Theorie war zu weit hergeholt, um damit ihre Zeit zu vergeuden. Und das war es auch nicht, was Tina unglücklich machte. Was sie deprimierte, war vielmehr der Gedanke, ein scheinbar ganz normaler Mensch wie Andrew Kent, jemand, der nie zuvor mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, jemand, der keinerlei Anzeichen einer psychischen Erkrankung aufwies, der aussah, als würde er keiner Fliege etwas zuleide tun, könnte zu solch unmenschlichen und barbarischen Taten fähig sein. Wenige Stunden zuvor noch hatte sie mit den Managern der drei Firmen telefoniert, für die Kent im letzten Jahr Aufträge ausgeführt hatte. Sie hatte ihnen mitgeteilt, dass Kent verhaftet und unter Mordanklage gestellt worden war und dass Beamte vorbeikommen und ihre Aussagen aufnehmen würden. Alle drei hatten völlig schockiert gewirkt. Einer hatte sogar noch einmal betont, welch ein sympathischer Mensch Kent wäre und ihn als freundlich, höflich und zuvorkommend beschrieben. Keiner hatte die klassischen Serienkillerattribute »still« oder »zurückgezogen« erwähnt. Nein, er war beliebt, das hatte sie aus ihren Stimmen heraushören können.
Trotzdem musste ihn irgendwie der Drang überkommen haben, seinen Hammer zu nehmen und damit auf die Köpfe seiner Opfer einzuschlagen, bis ihre Gesichter nur noch blutige Massen waren. Und dann hatte er sie, während sie sich im Todeskampf wanden, vergewaltigt.
Das brach Tina das Herz. Dass Menschen so furchtbar und abgrundtief böse sein konnten; und jedesmal, wenn sie jemanden seiner gerechten Strafe zuführte, tauchte wie bei einer Hydra ein anderer auf, um dessen Platz einzunehmen. Kent hatte lediglich die Latte des Bösen höhergelegt, gerade als
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