Instinkt
konzentriert nach. »Nur eben nicht genau. Es gab Unterschiede.«
»Was für Unterschiede?«
»Die Hammerschläge. Roisíns Gesicht war zwar genauso zerschmettert wie das der anderen, doch die Todesursache war die Strangulierung. Klar hat er sie wie die anderen mit dem Hammer bearbeitet, aber im Unterschied zu den anderen erst, nachdem sie tot war.«
Als den beiden die Tragweite dessen, was Grier gesagt hatte, bewusst wurde, blieben sie wie angewurzelt stehen.
»Sein Alibi ist wasserdicht«, sagte Tina schließlich.
»Aber wenn er Roisín O’Neill nicht umgebracht hat, wer dann? Und was ist mit den anderen vier Frauen? Hat er die umgebracht? Oder auch nicht?«
Tina seufzte. »Ich weiß es nicht. Genau das müssen wir herausfinden.«
NEUNZEHN
»Du musst mir nicht helfen, Dan«, sagte Tina, als sie zu ihrem Büro hochgingen. »Du hast schon genug Überstunden geleistet, mir macht es nichts aus, die Sache alleine zu erledigen.« Tatsächlich hätte sie es sogar vorgezogen, alleine zu arbeiten, zumal die Kollegen alle weg waren. Dann hätte sie, ohne Verdacht zu wecken, ab und zu einen schnellen Schluck aus der Flasche nehmen können.
»Wenn der Fall Probleme macht, würde ich gerne helfen«, erwiderte er cool. »Ich habe es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Melinda erwartet mich sowieso nicht so früh.«
Melinda war Griers Frau. Sie hatten sich an der Universität kennengelernt und waren seitdem ein Paar. Tina hatte sie noch nicht getroffen, aber immer wenn Grier sie erwähnte, lag Stolz in seiner Stimme, und dadurch unterschied er sich fundamental von den anderen verheirateten Männern ihres Teams. Eigentlich hätte sie ihn deshalb sympathischer finden müssen. Stattdessen machte es sie eifersüchtig.
Tina teilte die O’Neill-Akten in zwei Hälften, gab Grier die Unterlagen, die sich auf ihren Hintergrund bezogen, und nahm sich selbst die Tatumstände vor.
Das Erste, was Tina auffiel, war, dass O’Neill perfekt in das Opferschema des Night Creepers passte. Sie war attraktiv, eine erfolgreiche Marketingmanagerin eines Pharmaunternehmens und entsprach mit ihren neunundzwanzig Jahren auch dem Altersschnitt. Außerdem lebte sie allein und war offenbar Single. Und am allerwichtigsten war natürlich, dass sie drei Monate vor ihrem Tod für ihre Wohnung im West End eine neue Alarmanlage bestellt hatte, die von Andrew Kent installiert worden war.
Und es gab noch andere Parallelen. Als Tina weiterblätterte, stieß sie auf eine Reihe expliziter Fotos vom Tatort. Roisín war in der gleichen Position gefunden worden wie die anderen vier Opfer, nackt auf dem Bett liegend, auf dessen himmelblauen Laken sich deutlich ihre zerwühlten blonden Haare abzeichneten. Knöchel und Handgelenke waren ans Bett gefesselt, so dass sie mit gespreizten Gliedern dalag. Ihr Gesicht war zu einer blutigen Masse zerschmettert worden und nicht mehr wiederzuerkennen. Der Tatort sah aus wie alle anderen, außer dass es weniger Blut gab. Als Tina die Nahaufnahmen von Roisíns Oberkörper genauer betrachtete, erkannte sie die Quetschungen im Halsbereich, die bei den anderen Opfern fehlten.
Der Autopsiebericht bestätigte Griers Bemerkung, dass O’Neill stranguliert worden war und die Schläge auf ihren Kopf post mortem mit einem stumpfen Gegenstand, wahrscheinlich einem Hammer, ausgeführt worden waren. Der Pathologe hatte sich nicht festlegen wollen, wie lange nach ihrem Tod die Schläge erfolgt waren, doch was den Todeszeitpunkt anging, konnte er ihn angesichts des Verwesungsgrads der Leiche verbindlich auf die Zeit zwischen 18:00 Uhr und Mitternacht des vorigen Tages taxieren. Das hieß, am Tag der Beerdigung von Kents Vater. Das Begräbnis hatte um 14:00 Uhr stattgefunden, technisch gesehen hätte Kent also durchaus ein Fahrzeug stehlen oder mieten können, um nach London zu fahren – laut Google Maps knapp 700 Kilometer –, den Mord zu verüben, wieder nach Inverness zurückzukehren und pünktlich am Frühstückstisch Platz zu nehmen. Allerdings war das extrem unwahrscheinlich, und für den Augenblick zumindest dachte Tina nicht daran, sich nach gestohlenen oder gemieteten Autos im Großraum Inverness zu erkundigen.
Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Unterschiede der Tatumstände. Zwei waren besonders augenfällig.
Zunächst einmal fehlten jegliche Chloroformspuren am Tatort O’Neill. Dabei gehörte es zum Modus Operandi des Night Creepers, seine Opfer mit der Chemikalie zu betäuben, nachdem er sich Zutritt zu ihren
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