Instinkt
das war angesichts des Umfangs der Ermittlungen und der Anzahl der daran beteiligten Detectives nicht überraschend. »Und warum sticht es jetzt auf einmal heraus?«
»Weil die Beschreibung, so rudimentär sie auch ist, klein, lange Haare, Leberflecke auf der Wange, auf Kent passen könnte.«
Tatsächlich erinnerte Tina sich an die beiden kleinen, fast schwarzen Leberflecke, die sich etwa zwei Zentimeter voneinander entfernt auf Kents Wange befanden. »Mehr als das!«, rief sie aus, »sie passt genau.«
»Aber mein Fehler war das nicht«, entgegnete Grier abwehrend. »Damals konnte ja noch niemand wissen, dass er unser Killer ist.«
»Hast du die Telefonnummer dieser Zeugin?«, fragte Tina, die sich nicht in einer Diskussion über alte Fehler verzetteln wollte. Als er nickte, sagte sie ihm, er solle sie anrufen. »Und sieh zu, dass man ihr ein Foto von Kent zeigt. Mal schauen, ob sie ihn erkennt.«
Zwei Minuten später telefonierte er mit der sechsundsiebzigjährigen Beatrice Glover. Er erinnerte sie an den Mord und ihre Aussage und fragte, ob er vorbeikommen könne, um ihr ein Foto zu zeigen. »Oh, Sie haben E-Mail?«, hörte ihn Tina kurz darauf überrascht sagen. »Blödmann«, dachte Tina, »typisch für ein arrogantes Kiddie wie Grier, hat nur allgemeine Klischees im Kopf.« Sie fragte sich, ob er der Aussage der älteren Dame deshalb anfangs keine große Bedeutung zugemessen hatte.
Sie wartete ab, bis er Beatrice Glover das Foto, das nach Kents Festnahme aufgenommen worden war, gemailt hatte. Grier blieb in der Leitung und wartete, bis Glover das Bild geöffnet hatte.
Als er auflegte, wirkte er verwirrt. »Sie ist sich nicht hundert Prozent sicher, sie sagt, es sei ja schon ziemlich lange her, aber sie glaubt eigentlich schon, dass der Mann auf dem Foto der ist, den sie in der Woche vor dem Mord an Roisín im Treppenhaus gesehen hat.«
Er seufzte. »Wenn Kent sie gar nicht umgebracht hat, was zum Teufel wollte er dann ohne erkennbaren Grund in ihrem Treppenhaus?«
Darüber hatte Tina bereits während der vergangenen Minuten nachgedacht. Und sie konnte sich nur eine Antwort vorstellen, die Sinn ergab.
»Ich hoffe sehr, dass ich mich irre«, sagte sie schließlich. »Aber es ist gut möglich, dass Andrew Kent nicht allein gehandelt hat.«
ZWANZIG
Ungläubig schüttelte Grier den Kopf. »Mein Gott, zwei von der Sorte? Davon war, seit ich an dem Fall arbeite, nie die Rede.«
»Das wundert mich nicht. Zwei Serienkiller, die zusammenarbeiten, sind extrem selten. In Großbritannien ist mir aus den letzten dreißig Jahren lediglich ein Fall bekannt.«
»Die Railway Killer, Duffy und Mulcahy«, bestätigte er eifrig, um zu demonstrieren, dass er wusste, welchen Fall Tina meinte. »Könnte es nicht auch eine harmlose Erklärung für seine Anwesenheit geben?«, fragte er. »Vielleicht hat sie ihn angerufen, damit der die Alarmanlage überprüft oder so.«
Tina schüttelte den Kopf. »Das checken wir bei seinem Auftraggeber ab, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass auch wenn Kent nicht der Mörder ist, er auf jeden Fall mehr weiß, als er uns erzählt hat.«
Tina ärgerte sich über sich selbst. Schon ein paarmal hatte sie sich von Kent hereinlegen lassen. Anfangs, als alle Indizien gegen ihn sprachen, hatte sie es für möglich gehalten, jemand habe ihn hereingelegt. Doch inzwischen wusste sie, dass er nur ein gerissener und manipulativer Soziopath war, der möglicherweise im Fall Roisín O’Neill davonkommen würde, selbst wenn er etwas mit ihrem Tod zu tun hatte.
»Ich werde ihn mir noch einmal vornehmen«, erklärte sie und stand auf.
Grier schaute sie überrascht an. »Darfst du das denn? Er hat uns nicht die Erlaubnis erteilt, mit ihm zu sprechen.«
»Doch, die hat er mir früher am Abend erteilt. Für mich reicht das. In ein paar Minuten bin ich wieder da.« Aber als sie an ihm vorbeiging und das Büro verließ, wusste sie noch nicht, was sie Kent eigentlich fragen wollte.
Auf dem Weg zum Zellentrakt rekapitulierte sie, was sie herausgefunden hatten. Die meisten Mordfälle sind eine klare Angelegenheit, bei denen es fast immer einen auf der Hand liegenden Verdacht gibt. Deshalb ist die Aufklärungsrate auch so hoch. Selbst Serienmörderfälle sind in der Regel nicht sonderlich kompliziert. Der Killer mordet, bis die Polizei genügend Indizien zusammengetragen hat, die zu seiner Identifikation führen, und er wird verhaftet.
Doch dieser Fall lag anders. Er verwandelte sich langsam in ein
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