Instinkt
niemand kannte. Andrew Kent.
ACHTZEHN
Tina sah Sean Egan nach, der sich die Straße hinunter entfernte. An einem anderen Abend hätte sie vielleicht Lust gehabt, sich mit ihm zu unterhalten. Dass Dougie MacLeod gesagt hatte, er ziehe Ärger an, machte sie neugierig, zudem sah er gut aus und schien auch etwas auf dem Kasten zu haben. Doch im Augenblick interessierte sie sich mehr für den Night Creeper und sein, oder besser gesagt Andrew Kents Alibi.
Ehe sie ihr Büro verlassen hatte, hatte sie im standesamtlichen Register nachgeforscht und festgestellt, dass Kents Vater tatsächlich kurz vor dem Mord an Roisín O’Neill verstorben war. Dann rief sie den Pastor der Kirche in Inverness an, der Kent senior am Tag, an dem Roisín O’Neill laut Autopsiebericht ermordet worden war, beerdigt hatte. Der Pastor bestätigte nicht nur das Datum, sondern erinnerte sich auch, Kent persönlich die Hand geschüttelt zu haben, als er den Familienangehörigen vor Beginn des Gottesdienstes kondolierte. Tina sagte dem Pastor, es handle sich um eine Routineuntersuchung, und er möge bitte Stillschweigen bewahren. Sie verspürte nicht die geringste Lust, ihm die Einzelheiten des Falles zu unterbreiten, obwohl sie genau wusste, dass Kents Anwalt genau dies sehr bald tun würde.
Ihre Kollegen waren bereits zum Pub aufgebrochen, und als sie fünfzehn Minuten später das »Fox and Hounds« betrat und ihre Kollegen lautstark die Festnahme des Killers feiern sah, der die Frauen Londons zwei Jahre lang in Angst und Schrecken versetzt hatte, brachte sie es nicht fertig, ihnen von Kents Alibi zu erzählen. Aber genauso wenig brachte sie es fertig, mitzufeiern, und so zwang sie sich, einen Orangensaft zu bestellen, weil sie dringend nachdenken musste.
Sämtliche Beweise deuteten darauf hin, dass Kent ihr Mörder war, sein Alibi allerdings schien so wasserdicht, dass es echt sein musste, zudem beteuerte er lautstark und unter Tränen seine Unschuld. Die Aussicht, sich mit einem Rätsel zu befassen, das niemanden sonst interessierte, jagte ihr einen Schauer ein. Einen Schauer, den sie nur allzu gut kannte.
Nun, nachdem sie ihre Pflicht getan und sich eine Weile im Pub hatte blicken lassen, wollte sie aufs Revier zurückkehren und sich Roisín O’Neills Akte noch einmal vornehmen, in der Hoffnung, irgendwelche neuen Anhaltspunkte zu finden. Roisín war das vierte Opfer gewesen; sie war ermordet worden, als Tina noch nicht der Sonderkommission angehörte. Vielleicht hatte der Pathologe ja einen Fehler gemacht und den Todeszeitpunkt falsch berechnet. Das kam hin und wieder vor, und im Augenblick schien es die plausibelste Erklärung. Zumindest hoffte sie das, als sie ihre Zigarette austrat.
Sean war verschwunden, nahm sie abwesend wahr, und bedauerte für einen Moment, dass er sich nicht von ihr verabschiedet hatte. Sie fragte sich, ob sie ihm ihre Nummer gegeben hätte, und gestand sich ein: wahrscheinlich schon.
Als sie gerade zu Fuß zum Revier zurückgehen wollte, kam Dan Grier aus dem Pub. Sie fragte ihn, ob er nach Hause ginge.
Er nickte. »Und du?«
»Ich muss nochmal ins Büro. Da ist Arbeit liegengeblieben.«
»Was für Arbeit?«, fragte er und ging neben ihr her. »Ich dachte, wir hätten den Fall gelöst.«
»Das haben wir. Aber es gibt ein paar lose Enden, die verknüpft werden müssen.«
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Du warst doch bei den Ermittlungen dabei, als Roisín O’Neill ermordet wurde? Erinnerst du dich an etwas Besonderes? Etwas, das den Fall von den anderen unterschied?«
»Ich habe gehört, Kent behauptet, ein Alibi für den Mord an O’Neill zu haben. Stimmt das?«
Sie hatte zwar mit MacLeod vereinbart, über Kents Alibi Stillschweigen zu bewahren, aber einiges drang immer nach draußen, und sie sah keinen Grund mehr, es geheim zu halten. »Sieht so aus, ja. Deshalb will ich mir noch einmal ihre Akte vornehmen. Der Mord an Roisín war vor meiner Zeit, deshalb muss ich mich tiefer reinfummeln.«
Grier schwieg ein paar Schritte lang. Dann sagte er: »Auf Kents Laptop gibt es keine Aufnahme dieses Mordes. Und da das der einzige Mord ist, der nicht aufgenommen wurde, kommt mir das angesichts seines Alibis merkwürdig vor.«
»Die ganze Geschichte ist verdammt merkwürdig. War der Modus Operandi exakt der gleiche wie bei den anderen?«
Dan überlegte einen Moment. »Himmel!«
Sie fasste ihn am Arm. »Was?«
»Der Modus Operandi war schon derselbe, nur …« Er legte die Stirn in Falten und dachte
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