Instinkt
Wohnungen verschafft hatte. Dann fesselte und knebelte er die ohnmächtigen Frauen und begann sein grausames Werk. An allen vier anderen Tatorten waren Chloroformspuren gefunden worden. Wer immer Roisín ermordet hatte, und Tina war inzwischen fast sicher, dass es nicht Andrew Kent gewesen war, hatte Roisín auf andere Weise überwältigt, ehe er sie ans Bett fesselte.
Der zweite Unterschied: Es fehlten alle physischen Anzeichen eines gewalttätigen sexuellen Missbrauchs. Selbst wenn die Frauen ihm hilflos ausgeliefert waren, ging der Night Creeper offenbar grob bis brutal mit seinen Opfern um und hatte ihnen so verschiedene sexuell motivierte Verletzungen zugefügt. Meistens hatte es sich um Schürf- und Risswunden gehandelt. O’Neill allerdings wies keinerlei solcher Verletzungen auf. Deshalb hatte der Pathologe auch nicht sagen können, ob eine Vergewaltigung stattgefunden hatte oder nicht.
Allerdings konnte er bestimmen, dass das Opfer in den zwölf Stunden vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr gehabt hatte, da er in ihrer Vagina Samenspuren sichergestellt hatte. Doch die DNS-Untersuchung hatte bereits bestätigt, dass es sich hierbei nicht um das Sperma von Kent handelte. Und auch die Nationale DNS-Datenbank mit ihren zwei Millionen Proben hatte keine Identifizierung ergeben.
Tina lehnte sich zurück, reckte sich und beobachtete Grier, der über seinen Schreibtisch gebeugt unablässig notierte, während er in einer Akte las. Die Uhr an der Wand zeigte zwanzig nach acht. Sie waren seit mehr als einer Stunde in ihre Arbeit vertieft und hatten dabei kaum ein Wort miteinander gewechselt.
»Steht in deinen Akten irgendetwas darüber, ob Roisín einen Freund gehabt hat, Dan? Oder einen Liebhaber? Ich weiß, dass sie wohl Single war, aber laut Autopsiebericht hatte sie am Tag ihres Todes Sex – und zwar nicht mit dem Mörder.«
Er schüttelte den Kopf. »Es gab keinen Freund, wenigstens nicht nach dem, was ihre Familie und ihre Freunde sagen. Und da wir ja hinter einem Serienkiller her waren, haben wir das auch nicht weiter verfolgt. Warum fragst du? Glaubst du, derjenige, der Sex mit ihr hatte, hat etwas damit zu tun?«
»Keine Ahnung. Aber ich wüsste gerne, wer es war. Und sei es nur, um ihn von der Liste zu streichen.«
»Daraus schließe ich, dass Kents Alibi immer noch steht.«
»Besser denn je«, gab Tina widerstrebend zu und erzählte ihm, was sie herausgefunden hatte.
Grier fuhr sich über die Stirn. »Dann haben wir ein Problem.«
»Warum?«
»Nun, da ist etwas, das ich nicht verstehe. Ich habe mir sämtliche Zeugenaussagen angesehen, Freunde, Familie, Nachbarn, alle, die sie auch nur flüchtig kannten. Und wie es aussieht, war sie eine ganz normale, nette junge Frau, die keine Feinde hatte. Im Grunde stach nur ein einziger Punkt heraus. Du weißt doch, dass Roisín in einem alten dreistöckigen Haus in Pimlico wohnte, dessen Wohnungen man in Luxusapartments umgewandelt hat.«
»Nein, das wusste ich nicht, aber mach weiter.«
»Es gab pro Stockwerk immer nur eine Wohnung, die über ein gemeinsames Treppenhaus verbunden waren. Roisín wohnte ganz oben. Ungefähr eine Woche vor ihrem Tod und etwa drei Monate, nachdem Kent die Alarmanlage eingebaut hatte, ist einer Nachbarin jemand im Haus begegnet, der aus Roisíns Wohnung zu kommen schien. Sie hat ausgesagt …« Er blätterte in den Unterlagen. »›Es war ein ziemlich verdächtig aussehender Typ, jung mit relativ langen Haaren, eher klein, der es vermied, mich anzusehen.‹«
»Hat Sie ihn gefragt, was er im Haus zu suchen hatte?«
»Nein, sie hat nichts gesagt. Wahrscheinlich wollte sie keinen Streit riskieren. Sie sagte, er habe das Haus durch die Eingangstür verlassen, und damit war die Geschichte für sie erledigt. Ich weiß noch, dass wir das damals nicht besonders ernst genommen haben.«
»Warum nicht?«
»Tja, hauptsächlich wohl, weil es eine ganze Woche vor dem Mord passiert ist. Und weil die Nachbarin einigermaßen naseweis wirkte, eine ältliche Dame, über siebzig. Wir haben versucht, mit ihrer Beschreibung ein Phantombild anzufertigen, aber das hat nicht funktioniert. Alle unsere Entwürfe fand sie misslungen. Auch als wir Roisíns Freunde und Verwandte gefragt haben, ob Roisín jemanden kannte, auf den die Beschreibung passe, konnte keiner etwas damit anfangen. Was uns nicht wirklich überrascht hat. Und deshalb ist die Aussage wohl ganz unten im Aktenstapel gelandet.«
Tina hatte noch nie von dieser Begegnung gehört, aber auch
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