Instinkt
Zeit spielen und hoffen, dass diese beschissene Entführung bald vorüber war, denn mit jeder Sekunde, die wir vertrödelten, wuchs die Chance, dass die Polizei eintraf – und angesichts von Wolfes und Haddocks aufgestautem Hass und Adrenalinpegel würde das zwangsläufig in einem Blutbad enden.
Endlich machte sich die Schwester mit zitternden Fingern an den Gurten zu schaffen, Wolfe half ihr, hielt ihr aber weiterhin die Waffe an die Schläfe.
Schließlich stieß Wolfe sie beiseite und riss Andrew Kent die Sauerstoffmaske vom Gesicht. Und endlich bekam ich ihn zum ersten Mal zu Gesicht. Der Night Creeper. Der Mann, den meine einstigen Kollegen für die Vergewaltigung und Ermordung von fünf Frauen verantwortlich machten. Er war klein und schmächtig und hatte die gräuliche Hautfarbe eines chronisch Kranken, aber er war bei Bewusstsein und wirkte genauso schreckensstarr wie die Männer und Frauen, die ihn hätten beschützen sollen. Er schien zu ahnen, dass ihm nichts Gutes blühte.
Er ähnelte eher einem Computernerd, und obwohl ich wusste, was er höchstwahrscheinlich getan hatte, und dass Killer nie wie Killer aussehen, sondern genauso verletzlich wirken wie du und ich, trotz all dem versetzte es mir einen Stich, als ich mit ansehen musste, wie Wolfe ihn brutal aus dem Krankenwagen zerrte und ihm dabei die Pistole in die Wange presste.
Und genau in diesem Moment lief alles komplett aus dem Ruder.
Der Polizist hechtete nach vorne, sprang aus dem Krankenwagen, griff nach Wolfes Hand, die die Pistole hielt, und versuchte, sie ihm zu entwinden. Warum er das tat, war mir unerklärlich, vielleicht wollte er den Helden spielen, aber eines sollte eigentlich jeder Polizist wissen, weil es ihm vom ersten Tag an eingebleut wird: Attackiere niemals einen Bewaffneten, wenn du selbst unbewaffnet bist. Denn so verwandelt man eine schwierige Situation in eine Katastrophe. Und genau das passierte.
Kent erkannte die Chance zur Flucht, riss sich von Wolfe los und rannte davon.
Ich stand kaum drei Meter entfernt und machte zwei Schritte nach vorn, um ihn aufzuhalten, wobei ich die Waffe wie einen Baseballschläger hielt. Einen Serienmörder entkommen zu lassen, wäre das Sahnehäubchen auf der Scheiße gewesen, in der ich mittlerweile steckte.
Doch für einen Kranken bewegte Kent sich erstaunlich schnell. Er sprang mich an und versetzte mir einen Karatetritt in den Magen. Ich konnte zwar noch ein bisschen ausweichen, trotzdem erwischte er mich, und ich taumelte zurück und prallte gegen den Kühler des Streifenwagens.
Aber schließlich war ich auch nicht gerade ein Handtuch, und obwohl der Tritt mir die Luft genommen hatte, rappelte ich mich auf und knallte ihm den Gewehrkolben gegen die Schläfe, als er sich an mir vorbeidrängelte. Der Schlag saß, er ging wie ein nasser Sack zu Boden, und sofort bildete sich auf dem Asphalt eine Blutpfütze. Er lag leblos da, das Blut quoll aus einer Wunde am Haaransatz, und einen Augenblick lang dachte ich, ich hätte ihn umgebracht.
Dann sah ich, dass Wolfe sich von dem Cop losriss und ihn zurück in den Krankenwagen stieß. Jetzt war plötzlich eine Lücke zwischen den beiden entstanden. Haddock schwang die Pumpgun, die er auf die Polizistin gerichtet hatte, herum und legte auf ihren törichten Partner an. Auch Wolfe hob seine Waffe, zielte mit beiden Händen und drohte den Cop zu erschießen.
»Nein!«, brüllte ich, und dann geschah alles wie in Zeitlupe. Der junge Cop, er mochte höchstens fünfundzwanzig sein, hob die Hände zum Zeichen, dass er sich ergab. Seine Heldenträume waren in Sekundenbruchteilen verpufft. Nun stand ihm die Todesangst ins Gesicht geschrieben.
Ich wollte handeln. Meine Pumpgun auf Wolfe und Haddock richten und sie auffordern, ihre Waffen fallen zu lassen, weil ich ein Bulle war. Vielleicht sogar das Feuer eröffnen und die Welt von den Mördern meines Bruders befreien.
Doch ehe ich irgendetwas tun konnte, drückte Haddock eiskalt den Abzug seiner Remington. Der Cop wurde von den Füßen gerissen und flog, die Arme hilflos an den Seiten baumelnd, rückwärts in den Krankenwagen, wo er wie ein Zinnsoldat auf den Rücken fiel.
»Los, los, Abflug!«, bellte Wolfe und sah mich an. »Schnapp dir Kent.«
Selbst durch das betäubende Klingeln in meinen Ohren konnte ich die panischen Schreie von Ryan James und seinem Kollegen hören, die im Wagen festsaßen und zuschauen mussten, wie einer von ihnen niedergeschossen wurde. Damit wurde mein schlimmster
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