Instinkt
ich wollte auch nicht unbewaffnet durchs Gebüsch schleichen. Da ich im Schuppen nichts gefunden hatte, blieb mir nur noch eine Möglichkeit.
»Wir müssen zurück ins Haus.«
»In der Küche gab es Messer. In einer der Schubladen. Ich habe vorhin welche gesehen.«
»Damit sollten wir hinkommen.«
Ich ging zurück zum Eingang und hoffte, dass die Messer noch da waren, und fragte mich gleichzeitig, ob es dumm war, sich zurück ins Haus zu wagen.
Als ich eintrat, wurde ich zumindest nicht attackiert. Das Haus wirkte so still und verlassen wie vorhin. Ich wartete ein paar Sekunden und lauschte nach ungewöhnlichen Geräuschen, doch ich hörte nur Lees leise Atemzüge hinter mir. Ich fragte sie, wo die Küche sei.
»Da drüben«, flüsterte sie und deutete auf eine offen stehende Tür rechts von der Treppe. So wie sie sich verhielt, bestand kein Zweifel, dass ich vorgehen sollte.
Ich trat gegen die Tür, die mit lautem Krachen aufflog. Erschrocken wich Lee zurück.
»Warum hast du das gemacht?«, zischte sie mich an.
»Weil ich Risiken ausschließen will«, erwiderte ich, ging hinein und sah mich um.
Die Küche war groß und hatte eine Frühstückstheke in der Mitte. Die Wände waren mit Graffiti übersät, und in der Luft hing ein ranziger Fettgeruch. Auf den ersten Blick schien der Raum leer zu sein.
Lee zeigte auf die Schublade, in der sie die Messer gesehen hatte; ich zog sie auf und wühlte mich durch das billige Besteck, bis ich ein stumpfes rostiges Filetiermesser und ein kleines Küchenmesser mit einer zehn Zentimeter langen Klinge gefunden hatte. Ich gab Lee das Küchenmesser und behielt das große.
Ich konnte mir nicht vorstellen, jemanden zu erstechen. Ich hatte schon genug Opfer mit Stichverletzungen gesehen, um genau zu wissen, was das für eine üble Schweinerei ist, und ich wusste, ich würde nicht die Nerven haben, jemandem ein Messer in den Bauch zu rammen, selbst wenn derjenige versuchen würde, mich umzubringen. Trotzdem war ich froh, überhaupt eine Waffe gefunden zu haben, die zumindest zur Abschreckung diente.
»Können wir jetzt gehen?«, fragte Lee.
Im Zwielicht sah ich die Angst in ihrem Gesicht, deshalb nickte ich und ging zum Ausgang.
Doch dann fiel mir etwas ein, und ich blieb stehen. »Warte noch.«
Ich schaute durch die Tür, durch die Kent verschwunden war. Kent! In meiner Verzweiflung hatte ich ihn völlig vergessen. Ich musste herausfinden, welches Schicksal ihn ereilt hatte. Hatte der geheimnisvolle Kunde ihn mitgenommen, ihn vielleicht befreit? Oder lag er noch immer hilflos im Keller? War er überhaupt noch am Leben? Wenn er da unten noch lebte, war es meine Pflicht, ihn da herauszuholen und wieder in Gewahrsam zu nehmen.
Ich erklärte Lee, was ich vorhatte, und sie sah mich an, als hätte ich völlig den Verstand verloren. »Geh da nicht runter«, flehte sie. »Lass uns einfach abhauen.«
Ich schüttelte den Kopf und trat die Tür auf dieselbe Weise auf wie vorhin die zur Küche. Diesmal entfuhr Lee ein ohrenbetäubendes Kreischen, das einen Toten aufgeweckt hätte.
»Ich bin doch nur vorsichtig«, sagte ich, ehe ich eintrat. Im Licht meines Feuerzeugs erkannte ich, dass der höhlenartige Raum leer war. Graffiti an den Wänden, sonst nichts.
Aber als Lee hinter mir her kam, sah ich es.
Die Kellertür war nur angelehnt, der Riegel zurückgeschoben. Wolfe und Haddock hätten sie niemals offen gelassen, nicht wenn sie da unten ihre Beute aufbewahrten, für die sie sogar einen Polizisten niedergeschossen hatten. Und wie hätte Kent ganz allein entwischen können, solange die Tür von außen verriegelt war?
Vorsichtig näherte ich mich der Tür und versuchte, das Knarren der alten Dielen möglichst zu verhindern. Einen halben Meter davor blieb ich stehen und lauschte. Nichts. Ich benutzte mein Messer, um die Tür ein Stück weiter aufzuziehen, und starrte in die Dunkelheit hinab; mein Feuerzeug leuchtete kaum die ersten Stufen aus.
»Ich will da nicht runter«, flüsterte Lee.
Ich legte ihr fürsorglich die Hand auf die Schulter. »Du kannst hier oben warten. Ich bin gleich zurück.«
Sie bat mich noch einmal, nicht hinunterzugehen, und ich hätte ihr den Gefallen nur zu gerne getan, aber ich musste wissen, was mit Kent geschehen war.
Das Metallrädchen des Feuerzeugs begann mir die Finger zu verbrennen, deshalb ließ ich die Flamme erlöschen und stieg, das Messer vor mir ausgestreckt, langsam die steinerne Treppe hinab. Angespannt versuchte ich, das geringste
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