Instinkt
Aussteigen nur, ob sie ihn morgen benötigen würde.
»Ich lasse Sie es wissen«, sagte sie und sah ihm nach, wie er die Tür zu seinem hübschen Backstein-Townhouse aufschloss, in dem seine Frau, eine früh erfolgreiche Kanzleianwältin, auf ihn wartete.
Nun, da sie es sich in ihrem winzigen Wohnzimmer mit Wein und Zigaretten bequem gemacht hatte, konzentrierte Tina sich auf den Fall, denn ihr war klar, würde sie jetzt aufhören, nach Antworten zu suchen, würde sie unweigerlich in Selbstmitleid verfallen. Und Fragen gab es bei Gott genug, denn dies war der rätselhafteste Fall ihrer Karriere. Auf der einen Seite hatte sie einen Verdächtigen, auf den praktisch alle Indizien hindeuteten: die Mordwaffe in seiner Wohnung, die Aufzeichnungen der Morde auf seinem Computer und die direkte Verbindung zu jedem einzelnen Opfer. Aber unter diesen Morden hatten sie einen, der sich definitiv von den anderen unterschied und für den der Verdächtige ein hieb- und stichfestes Alibi vorweisen konnte. Hinzu kam Kents Behauptung, er verfüge über wichtige Informationen, die offenbar so wichtig waren, dass jemand es für geboten hielt, ihn umbringen zu lassen. Egal, ob er die Vergiftung in seiner Zelle vorgetäuscht hatte oder nicht, Tatsache war, dass eine Gang ihn mit Waffengewalt aus dem Polizeigewahrsam befreit hatte. Irgendwem war er also wertvoll genug.
Aber wem? Und warum?
Tina nahm einen weiteren Schluck Rioja. Eigentlich war Alkohol konzentriertem Nachdenken nicht gerade förderlich, aber im Augenblick hoffte sie, der Wein möge ihr einen anderen Blickwinkel eröffnen.
Denn etwas hatte sie garantiert übersehen. Nichts geschah ohne Grund. Irgendwo musste die Lösung verborgen sein, es ging nur darum, sie herauszufiltern, und das machte man am besten, indem man die alte Sherlock-Holmes-Methode anwandte und so lange das Unmögliche ausschloss, bis die einzig logische Lösung übrig blieb. Das musste dann die Wahrheit sein.
Kent hatte Roisín O’Neill nicht umgebracht. Jemand anderes hatte es getan. Diese Person hatte sie erwürgt, aber keine erkennbaren Spuren einer Vergewaltigung hinterlassen. Der Killer musste den Modus Operandi des Night Creepers gekannt haben, obwohl dieser der Öffentlichkeit nicht bekannt war. Und er hatte versucht, den Mord wie die anderen aussehen zu lassen, um seine eigene Täterschaft zu vertuschen. Was aber wollte der Killer dann von Andrew Kent?
Denk nach … denk nach …
Plötzlich fiel es Tina wie Schuppen von den Augen, und sie knallte ihr Glas auf den Couchtisch. Sie bemerkte nicht einmal, wie der Wein überschwappte und von der Tischkante auf den Teppich tropfte. Dafür war sie viel zu erregt. Denn endlich glaubte sie zu wissen, was geschehen war und warum man es auf Andrew Kent abgesehen hatte.
Nun mussten sie ihn nur noch finden.
VIERUNDDREISSIG
Blitzartig war ich wieder aus dem Schuppen. Mein Gesicht muss eine Maske puren Schreckens gewesen sein, denn unwillkürlich hielt sich Lee eine Hand vor den Mund.
Ich nahm sie am Arm und geleitete sie vom Schuppen weg. »Da drin ist eine Leiche.«
»Oh Himmel, nicht Ty. Bitte, bitte nicht Ty.«
Da merkte ich, wie sehr sie an ihm hing, auch wenn Gott allein die Gründe dafür kannte.
»Nein, es ist Haddock. Er wurde ermordet.«
»Haddock. Aber der ist doch ein Monstrum.«
»Sie müssen ihm aufgelauert und ihn überrascht haben.«
Langsam ging ich wieder zur Vorderseite des Gebäudes zurück und zog Lee hinter mir her. Ich hatte keine Ahnung, wer Haddock getötet hatte, aber wer immer es auch war, er verstand sein Handwerk. Und wenn er einen Typen wie Haddock erledigen konnte, würde er keine Schwierigkeiten haben, auch mich und Lee auszuschalten.
Einen Moment lang glaubte ich, eine Bewegung im Unterholz gesehen zu haben. Ich kniff die Augen zusammen und starrte ins Dunkel, konnte aber nichts erkennen. Ich fragte mich, ob ich es mir nur eingebildet hatte. Es war stockfinster und ich war extrem nervös.
»Wir müssen abhauen«, sagte ich zu Lee. »Und vorher müssen wir uns Waffen besorgen.«
»Was ist mit Ty?«
»Hast du kein Handy? Ruf ihn doch an und verabrede einen Treffpunkt.«
»Habe ich schon versucht. Ich bekomme hier einfach kein Netz.«
»Scheiße.«
Lee sah sich furchtsam in der Dunkelheit um.
»Glaubst du, dass der, der Haddock getötet hat, noch da ist?«
»Nein, dafür gibt es keinen Grund«, besänftigte ich sie. Tatsächlich war ich keineswegs sicher. Deshalb wollte ich so schnell wie möglich weg, aber
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