Instinkt
heiße Kartoffel fallenlassen würde, sobald sich auch nur andeutete, dass ich einen peinlichen Schatten auf ihn werfen könnte.
Dennoch gab es jemanden, der mir helfen konnte. Es war zwar lange her, dass ich mit ihm zu tun gehabt hatte, aber ich vertraute ihm, und das war entscheidend, denn ich würde ihm die ganze Wahrheit anvertrauen müssen. Die Zeit der Alleingänge war definitiv vorbei.
Ich suchte mein Handy heraus, doch dann steckte ich es wieder weg. Die Sache musste von Angesicht zu Angesicht geklärt werden. Ansonsten wäre es zu gefährlich.
Ich musste mich schon zu ihm nach Hause bemühen.
DREIUNDVIERZIG
Das unablässige Klingeln des Telefons riss Tina Boyd aus einem tiefen, traumlosen Schlaf zurück in die Realität. Als sie es schließlich schaffte, ihr Handy vom Nachttisch zu nehmen, sprang die Digitalanzeige ihres Weckers gerade auf 5:35 Uhr um.
Es war Mike. »Tut mir leid, wenn ich dich wecke«, begrüßte er sie überraschend vergnügt. »Aber ich habe Neuigkeiten.«
Tina setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du tust mir ja einen Gefallen.«
»Du bist da auf etwas ganz Großes gestoßen, Tina«, fuhr er fort. »Keine Ahnung, wie du das immer wieder hinkriegst.«
Sie spürte das vertraute Kribbeln, das sie stets überkam, wenn sich eine Spur ergab, und griff nach Notizblock und Stift, die sie stets neben dem Bett bereithielt.
»Schieß los. Was hast du herausgefunden?«
»Die anonyme Handynummer aus der Anruferliste deines Opfers ist tatsächlich eine Prepaidnummer und seit 22. November letzten Jahres nicht mehr benutzt worden.«
»Am Tag, bevor Roisín ermordet wurde.«
»Das heißt trotzdem nicht, dass die Person, die das Handy benutzt hat, der Mörder sein muss. Es kann sich auch um einen Liebhaber handeln, der nicht in die Ermittlungen verwickelt werden wollte. Was tatsächlich weitaus wahrscheinlicher ist als deine Theorie.«
»Jemand hat sie aber umgebracht, Mike, und es war nicht der Night Creeper. Allerdings jemand, der weiß, wie man eine Alarmanlage ausschaltet. Und jemand, der sie kannte. Das Liebhaber-Szenario ist deshalb genauso wahrscheinlich wie jedes andere. Kannst du herausfinden, von wo aus das Handy benutzt worden ist?«
»Schon geschehen. Wir haben auch den Ort ermittelt, wo es abgeschaltet worden ist, übrigens derselbe, von dem es auch benutzt wurde. Eine Privatadresse.«
Tina spürte die Erregung in ihr aufsteigen. Jetzt war sie hellwach.
»Und wem gehört sie?«
»Die Geschichte ist groß, Tina, riesig.«
»Sag mir, wie er heißt. Es ist doch ein ›Er‹, oder?«
»Ja, es ist ein ›Er‹. Und sein Name lautet Anthony Gore.«
Tina zuckte zusammen. »Doch nicht der Anthony Gore?«
»Doch, der Anthony Gore. Der Innenminister.«
VIERUNDVIERZIG
Draußen dämmerte es, und das Gezwitscher der Vögel übertönte den Verkehrslärm in der Ferne. Tina griff zum Telefon, wählte und wartete, bis sich Beatrice Glover meldete.
»Guten Morgen, Mrs. Glover«, sagte sie dann. »Tut mir leid, Sie so früh zu stören, aber hier ist nochmals die Polizei. Mein Name ist DI Boyd, Sie haben doch gestern Abend mit meinem Kollegen, DC Grier, gesprochen.«
»Keine Sorge, ich bin seit über eine Stunde auf«, erwiderte Mrs. Glover freundlich. »In meinem Alter muss man jede Stunde nutzen, weil man ja nicht weiß, wie viel Zeit einem noch bleibt. Und ja, ich habe in der Tat gestern Abend mit Ihrem Kollegen gesprochen. Er wollte, dass ich mir das Foto eines jungen Mannes anschaue, den ich letztes Jahr bei uns im Haus gesehen habe. Ich hoffe, ich konnte ihm behilflich sein.«
»Oh ja, Mrs. Glover, Sie waren uns sogar eine große Hilfe. Aber ich fürchte, ich habe noch eine Frage an Sie. Sie haben doch mehrmals einen grauhaarigen Mann beobachtet, wie er das Haus verlassen hat. Er muss schon über fünfzig gewesen sein und war ziemlich groß gewachsen.«
»Stimmt. Ich bin ihm einmal auf der Treppe begegnet. In Begleitung von Roisín. Sie hat ihn mir nicht vorgestellt, und ich hatte das Gefühl, er wollte auch nicht unbedingt gesehen werden, weil er mich nicht angeschaut hat. Sie glauben doch nicht, dass er etwas mit ihrem Tod zu tun hat? So sah er nun wirklich nicht aus.«
»Nein«, log Tina, »aber wir müssen ihn finden.«
»Den habe ich übrigens nochmal gesehen, ein paar Wochen später, als ich vom Einkaufen kam. Das war gar nicht so lange vor dem Mord. Er hat mir die Tür aufgehalten, schien es aber eilig zu
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