Instinkt
haben. Also ich glaube, er war ihr Geliebter.« Ihre Stimme bekam einen verschwörerischen Unterton. »Wahrscheinlich war er verheiratet und wollte deshalb nicht erkannt werden.«
Tina musste unwillkürlich lächeln. »Ich glaube, da liegen Sie völlig richtig, Mrs. Glover. Das haben Sie sehr gut beobachtet.«
Beatrice Glover kicherte stolz. »Jaja, ich bin vielleicht schon alt, aber senil bin ich nicht. Roisín war ein nettes Mädchen. Immer ein Lächeln auf den Lippen. Sie hätte etwas Besseres verdient gehabt als einen verheirateten Mann. Diese Affären gehen doch immer unglücklich aus.«
»Da haben Sie Recht«, erwiderte Tina und erinnerte sich an eine solche Beziehung, die sie selbst vor vielen Jahren gehabt hatte. Damals war sie Anfang zwanzig gewesen und gerade in den Polizeidienst eingetreten. Ihr Geliebter war ein Geschäftsmann, der nicht nur sechzehn Jahre älter war als sie, sondern, wie sie drei Monate später herausfand, auch verheiratet mit zwei Kindern. Es war eine schmerzhafte Erfahrung gewesen, die sie deshalb nie wiederholt hatte. »Sie haben doch einen Computer und Zugang zum Internet, Mrs. Glover? Könnten Sie mir einen Gefallen tun und etwas für mich nachsehen?«
»Aber natürlich, ich muss ihn nur schnell einschalten.«
Tina wartete geduldig, bis die alte Dame ihren Computer hochgefahren hatte. Unterdessen klagte Mrs. Glover, wie beunruhigt sie seit dem Mord sei, und fragte Tina, was aus der Welt geworden sei, wenn man in seinem eigenen Bett ermordet werden konnte.
»Es geschehen viel weniger Morde, als die Leute gemeinhin denken, Mrs. Glover, und noch seltener schlägt der Blitz ins selbe Haus zweimal ein. Deshalb sollten Sie sich keine Sorgen machen«, bemühte Tina sich, sie zu beruhigen, wenngleich ihr nur zu bewusst war, dass der Blitz in ihr Haus schon weitaus öfter eingeschlagen hatte.
»In Ordnung, Miss Boyd, der Computer ist startbereit. Was soll ich für Sie nachschauen?«
»Der Name lautet ›Anthony Gore‹. Können Sie den für mich googeln? Und die Bezeichnung ›Innenminister‹ hinzufügen? Dann werden auch ein paar Bilder mit angezeigt. Die müssten Sie sich dann anschauen.«
Langsam wiederholte Beatrice Glover Wort für Wort Tinas Bitte. Im Hintergrund hörte Tina das Geklapper der Tastatur.
Einige Sekunden verstrichen.
»Können Sie schon ein Foto von ihm erkennen?«, fragte Tina und mühte sich, dabei nicht ungeduldig zu klingen.
»Allmächtiger. Das ist er. Das ist der Mann, den ich mit Roisín gesehen habe. Ich hatte damals schon das Gefühl, dass er mir bekannt vorkam.«
»Herzlichen Dank, Mrs. Glover. Mehr will ich gar nicht wissen«, sagte Tina und schärfte ihr ein, gegenüber niemandem ein Wort davon zu erwähnen, bevor sie sich schnell verabschiedete, ehe die alte Dame auf die Idee kam, neugierige Fragen zu stellen.
Tina atmete tief durch und zündete sich die erste Zigarette des Tages an. Der Rauch brannte in ihrer Kehle. Anthony Gore war definitiv Roisín O’Neills Liebhaber gewesen. Natürlich musste das – wie Mike gesagt hatte – nichts weiter bedeuten, aber Tina war sich da nicht so sicher.
Ehe sie Beatrice Glover angerufen hatte, hatte sie Gore bereits gegoogelt. Gore war ein sechsundfünfzig Jahre alter ehemaliger Strafverteidiger, verheiratet, zwei erwachsene Kinder, der im Ruf stand, vor Gericht aggressiv aufzutreten und erfolgreich zu sein. Nach den Wahlen 2001 war er ins Parlament eingezogen und kontinuierlich aufgestiegen. Auch eine durch einen Bericht einer Sonntags-Boulevardzeitung im Jahr 2003 ausgelöste Kontroverse hatte ihm nichts anhaben können, obwohl er bezichtigt worden war, eine Affäre mit einer Prostituierten gehabt zu haben. Gore hatte lautstark dementiert und die Zeitung verklagt. Die Prostituierte relativierte ihre Aussage und behauptete, von Gore nur kostenlosen juristischen Beistand erhalten zu haben, was auch der Grund gewesen sei, weshalb er sich in ihrer Wohnung aufgehalten habe. Am Ende musste die Zeitung Gore ein Schmerzensgeld in Höhe von 120.000 Pfund bezahlen.
Mit einem Anflug von Zynismus stellte sie fest, dass Gore zwar öffentlichkeitswirksam herausgestrichen hatte, 10.000 Pfund einer Wohltätigkeitseinrichtung gespendet zu haben, den Rest aber für sich behalten hatte.
Und das war, was Tina betraf, das Problem mit Anthony Gore. Vielleicht las sie zu viel zwischen den Zeilen, doch der Mann hatte etwas an sich, was einen schlechten Geschmack hinterließ. Auf den Fotos wirkte er arrogant, und in
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