Intensity
Gedanke an einen saftigen gegrillten Truthahn rief ihr sofort dessen Geruch in Erinnerung. Chyna lief das Wasser im Mund zusammen, und ihr Magen knurrte; jetzt bedauerte sie, das Sandwich nicht gegessen zu haben, das Vess ihr gemacht hatte.
Sie nahm die Nadel zwischen Daumen und Mittelfinger der rechten Hand, verzichtete also auf den geschwollenen Zeigefinger, und steckte die Spitze in die Schlüsselöffnung der linken Handschelle. Versuchsweise herumtastend, erzeugte sie jede Menge leiser Klick- und Kratzgeräusche, während sie versuchte, den Schließmechanismus in dem Schlüsselloch der Handschelle zu erfühlen.
Sie erinnerte sich an einen Film, in dem der gefährlichste psychotische Mörder, das größte kriminelle Genie seiner Zeit, aus der Metallmine eines Kugelschreibers und einer ganz normalen Büroklammer einen Schlüssel für seine Handschellen gefertigt hatte. Er knackte beide Fesseln in fünfzehn Sekunden, vielleicht auch nur zehn, überwältigte danach seine beiden Wächter, tötete sie und schnitt einem die Gesichtshaut ab, die er dann als Tarnung trug, wozu er allerdings ein Taschenmesser und nicht den selbstgebastelten Schlüssel benutzte. Im Lauf der Jahre hatte sie viele andere Filme gesehen, in denen Gefangene Handschellen und Fußeisen öffneten, und keiner davon hatte mehr Übung darin gehabt als sie.
Als ihre Handschellen zehn Minuten später noch immer verschlossen waren, sagte Chyna: »Filme sind absolute Scheiße.«
Sie war so frustriert, daß ihre Hand zitterte und sie die Nadel nicht mehr richtig festhalten konnte. Sie zappelte sowieso nur nutzlos in dem engen Schloß herum.
Auf der Veranda lief der Hund nicht mehr so schnell auf und ab wie zuvor, war aber noch immer aufgebracht. Zweimal scharrte er mit den Pfoten an der Hintertür, einmal mit beträchtlicher Heftigkeit, als wolle er sich durch das Holz graben.
Chyna nahm die Nadel in die linke Hand und arbeitete eine Weile an der rechten Handschelle. Ein Ticken, Klicken, Scharren und Kratzen. Sie konzentrierte sich so stark darauf, das winzige Schloß zu knacken, daß sie so heftig schwitzte wie bei dem Versuch, den schweren Tisch umzustoßen.
Schließlich warf sie die Nadel auf den Boden, und sie sprang, ping-ping-ping , über die Fliesen und prallte zuerst gegen ein Stück des zerbrochenen Tellers und dann gegen eine Scherbe des Wasserglases.
Vielleicht hätte sie sich in null Komma nichts befreien können, wäre sie die größte Psychopathin und das größte kriminelle Genie ihrer Zeit gewesen. Doch sie war nur Kellnerin und Psychologiestudentin.
Trotz ihrer abträglichen geistigen Gesundheit und Gesetzestreue hätte sie die Handschellen und die größeren Fußfesseln vielleicht mit einem geeigneteren Werkzeug als dieser Truthahnnadel knacken können, doch dafür hätte sie wahrscheinlich ein paar Stunden benötigt. Und sie konnte sich nicht stundenlang einzig und allein damit beschäftigen, sich von dem Stuhl und den Fesseln zu befreien, denn sie mußte vor Vess’ Rückkehr noch zahlreiche andere dringende Aufgaben erledigen.
Sie schlug die Schublade zu und erhob sich, wobei sie die Kette hochhielt und den Stuhl mit sich schleppte.
Als Chyna zur Tür zwischen der Küche und dem Wohnzimmer humpelte, klimperte sie wie der Weihnachtsmann, der den Kamin hinabsteigt.
Hinter ihr, am Fenster der Eßecke, erklang ein unheimliches Kratzen. Sie schaute zurück und sah, daß der große Dobermann mit beiden Vorderpfoten hektisch über das Glas scharrte. Die Krallen glitten mit einem Geräusch über die Scheibe, das so unangenehm war wie das von Fingernägeln, die über eine Schiefertafel gezogen wurden.
Sie hatte vorgehabt, sich im Licht, das durch die offene Tür fiel, den Weg ins dunkle Wohnzimmer zu suchen, doch der Hund jagte ihr Angst ein. Während sie versucht hatte, die Handschellen zu knacken, war der Dobermann etwas ruhiger geworden, doch nun schien er völlig durchzudrehen. In der Hoffnung, ihn zu beruhigen, bevor er sich entschloß, durch die Fensterscheibe zu springen, schaltete sie die Neonleuchten unter der Decke aus.
Quietsch-quietsch-quietsch.
Krallen, Glas.
Quietsch-quietsch.
Sie schob sich über die Schwelle, ließ die Küche hinter sich und stieß die Tür zu, um das Quietschen nicht mehr hören zu müssen. Damit hatte sie auch den Hund ausgeschlossen für den Fall, daß er so verrückt sein sollte, durch die Scheibe zu springen.
Sie tastete sich die Wand entlang. Offenbar befand sich lediglich auf der
Weitere Kostenlose Bücher