Internet – Segen oder Fluch
Entwicklung zu einem besseren politischen System führen würde.
1989 , sechzig Jahre später, erklärte der damalige US -Präsident Ronald Reagan der britischen Zeitung
The Guardian
: «Der Goliath des Totalitarismus wird besiegt werden durch den David Mikrochip.» Es ist nicht klar, ob Reagan nur die Macht des Computers meinte oder ob er von den Frühformen des Internets wusste und die digitale Vernetzung in die Rechnung miteinbezog. Typisch für solche Techno-Prophezeiungen ist aber die Annahme, dass sich Technik selbstverständlich in die Richtung weiterentwickeln wird, die einem selbst am besten in den Kram passt. Und nicht etwa in die Richtung der Gegner.
Reagans begeisterter Slogan ist die Essenz der Argumente politischer Technikoptimisten: eine bessere Gesellschaftsordnung als Folge der technischen Entwicklung. In der seit Mai 2010 gültigen Version des Piratenprogramms steht unter der Überschrift «Mehr Demokratie wagen» eine ähnliche Formulierung: «Die digitale Revolution ermöglicht der Menschheit eine Weiterentwicklung der Demokratie». Das vorsichtige Wörtchen «ermöglicht» ist entscheidend realistischer [12] als Reagans Optimismus gegenüber der Technik, bei dem die Weltverbesserung automatisch ab Werk eingebaut ist.
In der Diskussion, ob die digitale Technologie Demokratie verbessert oder nicht, ist es ein verbreiteter Fehler, mit anekdotischen Beispielen zu argumentieren und diese als Beweis für das eigene Bauchgefühl anzuführen. Beide Seiten machen es sich damit zu einfach. Es ist, als würde man in einer Diskussion über die Medien im Dritten Reich sagen «Das Radio ist schlecht, die Nazis haben ihre Propaganda damit verbreitet!» oder «Das Radio ist gut, weil so die deutsche Bevölkerung Nachrichten der Alliierten bekommen konnte». Beides ist irgendwie richtig, bringt die Diskussion aber nicht voran, weil einzelne Argumente und Beispiele fälschlich zu den entscheidenden erhoben werden. Zufälligerweise genau die, die einem in den Kram passen. Gordon Brown sagte im Juni 2009 in einem Interview mit dem
Guardian
: «Es wird kein neues Ruanda [62] geben, weil sich Informationen über das Geschehen viel schneller verbreiten und die öffentliche Meinung immer größeren Druck ausüben würde, bis schließlich gehandelt werden müsste.» Viel näher an das Motto «Twittern gegen den Völkermord» kommt die Politik vermutlich nicht mehr heran. In jedem Fall glaubt Brown, dass die vernetzten Technologien der Barbarei zwingend entgegenstünden. Er unterstellt der Technik eine eingebaute positive Wirkung, so als seien die Inhalte egal. Dabei ist ebenso möglich, dass Leute, die Gefallen an Massenmorden finden, ihre Massaker über beschleunigte Informationsnetze noch geschmeidiger organisieren.
Die Idee, dass das Internet (oder einige seiner Funktionen) von allein Diktaturen in Demokratien und die starre Parteiendemokratie des 20 . Jahrhunderts in blühende Volksherrschaften verwandelt, geht von falschen oder zumindest unvollständigen Voraussetzungen aus. Wenn selbst ein britischer Premierminister so etwas anzunehmen scheint, hängt das auch mit der Neuartigkeit des Internets zusammen. Es ist wahr, theoretisch könnte dieses Mal alles anders sein, und das Netz – anders als Telegraph, Telefon, Radio, Film, die Ähnliches hoffen ließen – könnte diesmal wirklich automatisch Frieden und Freiheit durch Demokratie und Verständigung bringen. Die Anzeichen deuten allerdings nicht darauf hin, schon gar nicht auf «automatisch». Weltverbesserung durch Technik ist eine Idee, die keineswegs auf Informationstechnologien beschränkt ist. In der badischen Ständeversammlung, einem frühen Parlament des Großherzogtums Baden, wurde 1838 eine Diskussion über die Eisenbahn geführt. Der Abgeordnete Merk erklärte: «In dem Ideenaustausch, welcher durch den Nationenverkehr notwendig entstehen muss, liegt ein großes Gegengewicht gegen die Censur, und bei einem solchen Verkehr wird es unmöglich seyn, eine Reaction gegen die Fortschritte des menschlichen Geistes mit Erfolg durchführen zu können.» Am gleichen Ort erwiderte der Abgeordnete Welcker: «Wenn die Demagogen sich der Wägen auf den Eisenbahnen bedienen, so können auch die Gens d’armen, die Polizeidiener und die Executionstruppen auf solche aufsitzen, und so wird sich die Sache wieder ausgleichen.» [63]
Dieselben Positionen finden sich in der Internet-Diskussion wieder. In einem Streitgespräch zwischen den Netzdenkern Clay Shirky
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