Internet – Segen oder Fluch
auf 21 . Eine europaweite Datenschutz-Grundverordnung ist zwar in Arbeit, aber als die Europäische Kommission Anfang 2012 ihren Entwurf vorstellte, bezeichneten Kritiker die Vorschläge als «Datenschutztheater». Die Datenschützer, so hieß es, wollten zeigen, dass etwas geschieht. Die Konsumenten hätten ihrerseits keine Lust, sich mit technischen Details zu befassen, und seien deshalb auch mit schlecht ausgedachten Alibivorschlägen zufrieden. Zusammengenommen ergebe das nur teure Regulierungsvorschläge, die die Welt komplizierter machten, aber nichts daran änderten, dass private Daten nicht mehr zu kontrollieren seien.
In diesem Spannungsfeld findet die aktuelle Diskussion statt: Müssen sich Privatsphäre und Datenschutz dem Internet beugen oder umgekehrt? Es ist keineswegs so, dass sich hier Technikpessimisten und Netzoptimisten trennscharf gegenüberstehen, tatsächlich ist der Graben quer durch die deutschsprachige Netzgemeinde an dieser Stelle besonders tief. Leuten wie Frank Rieger und Constanze Kurz, beide Vorstandsmitglieder des Chaos Computer Clubs, lässt sich kaum fehlende Netzkenntnis vorwerfen, und doch gelten sie als ausgesprochene Datenschutzverfechter. Sie sehen die Vereinbarkeit von digital vernetzter Gesellschaft und Privatsphäre als eines der zwingenden Ziele der Netzpolitik an und folgen dem Ausspruch des CCC -Mitbegründers Wau Holland: «Öffentliche Daten nützen, private Daten schützen». Auf der anderen Seite finden sich nicht weniger netzaffine Leute wie der Blogger und Buchautor Christian Heller [72] oder der Informatiker Kristian Köhntopp. Sie argumentieren, dass sich Konzepte wie Datenschutz oder Privatsphäre mit dem Internet grundlegend geändert hätten. Schon 1999 erklärte der damalige CEO von Sun Microsystems, Scott McNealy, die Besorgnis um die Privatsphäre der Konsumenten sei ein «Ablenkungsmanöver», denn: «Sie haben ohnehin null Privatsphäre. Kommen Sie damit klar!» Die digitale Vernetzung basiere auf dem Fließen, dem dauernden Kopieren und Rekombinieren von Daten, und das mache die Idee einer «digitalen Privatsphäre» letztlich zur Farce, so lautet die Begründung für McNealys Satz. Freundlicher, aber mit ähnlichem Grundtenor formuliert auch Christian Heller seine These der Post Privacy: Privatsphäre sei ein Auslaufmodell und ohnehin nie die Wohltat gewesen, als die sie von Datenschützern gefeiert werde. Das Internet bewirke durch seine Struktur die Auflösung der Privatsphäre, daher müsse man die Chancen dieser gesellschaftlichen Transparenz näher betrachten.
Auf einen entscheidenden, aber bisher oft übersehenen Aspekt der Diskussion um Datenschutz und Privatsphäre hat der Blogger Michael «@mspro» Seemann hingewiesen. Anhand von Wau Hollands Zitat fragt er, wo denn überhaupt die Grenze sei zwischen den zu schützenden privaten Daten und den zu nützenden öffentlichen. Diese Frage ist spätestens mit der weltweiten Verbreitung der sozialen Medien nicht mehr so simpel zu beantworten wie zu Zeiten Wau Hollands. Bis zu seinem Einzug in den schleswig-holsteinischen Landtag hat der Politiker der Piratenpartei und Datenschutzaktivist Patrick Breyer seinen damaligen Beruf (Richter am Amtsgericht) strikt geheim gehalten, unter Verweis auf seine Privatsphäre. Die zugrundeliegende Frage, ob zum Beispiel der Arbeitgeber eines Parlamentskandidaten zu den öffentlichen oder zu den privaten Daten gehört, ist kaum eindeutig zu beantworten. Die oft geforderte Transparenz des Apparats kollidiert offensichtlich sehr oft mit dem Datenschutz. So ist das Steueraufkommen einer Stadt sicher ein öffentliches Datum, ebenso wie das eines Stadtbezirks. Wie aber sieht es mit den Steuern aus, die ein Straßenzug zahlt? Ein Wohnhaus? Ein Haushalt? In einigen skandinavischen Ländern sind die Steuern und damit die Einkünfte von Einzelpersonen öffentlich einsehbar. Die Grenze zwischen öffentlichen und privaten Daten unterliegt sowohl der Kultur und der subjektiven Einschätzung wie auch dem Wandel der Zeit.
Dieser Wandel wird aber nicht nur von der Entwicklung des Internets vorangetrieben, sondern auch vom Verhalten der Mehrheit. Damit ergibt sich eine Situation, die vorhersehbar zu erbitterten Diskussionen führt, weil der Schwarm Fakten schafft, die dann plötzlich für den Einzelnen als normal oder sogar verbindlich gelten sollen. Oder von Politikern zur Rechtfertigung einer Rundumüberwachung der Bürger genutzt werden; schließlich gäben die Leute bei
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