Internet – Segen oder Fluch
Vielzahl interessanter Menschen zum Problem, die die sozialen Medien heranspülen.
Der Programmiererspruch «It’s not a bug, it’s a feature» kann eben auch für die Oberflächlichkeit gelten. Mark Granovetter, amerikanischer Soziologe, schrieb 1973 einen der meistzitierten Aufsätze der Soziologie überhaupt: «Die Kraft schwacher Verbindungen». Er stellte darin die These auf, dass gerade die schwachen Verbindungen im sozialen Alltag einen besonderen (zum Beispiel beruflichen) Vorteil darstellen, dass schwache Verbindungen entgegen der allgemeinen Auffassung geradezu unersetzlich für den sozialen Austausch seien. Granovetter hat damit den soziologischen Grundstein für nachfolgende Netztheorien gelegt, die die schwachen Verbindungen als wichtigstes Feature sozialer Netzwerke sehen. Schwache Verbindungen aber, das erschließt sich den feinstofflich Begabteren schon aus der Wortwahl, stehen nicht gerade für tiefgehende Emotionalität. Sondern für eine zwar vorhandene, aber oberflächliche soziale Bindung. Das, was abfällig mit dem Wort Oberflächlichkeit belegt wird, ist also womöglich der wahre Wert der Netzwerke. Gerade über die Kontakte, mit denen man maximal Floskeln und Eulenfotos austauscht, lernt man seinen späteren Lebenspartner kennen oder bekommt den Traumjob (idealisierte Darstellung).
Diese Tatsache – der vorhandene Wert der oberflächlichen Beziehung – reicht allerdings nicht aus, um jedes gedankenlose oder zynische Nicht-drum-Kümmern im Netz zu erklären. Eine Deutungsmöglichkeit dafür ergibt sich aus der schieren Zahl der Kontakte, die soziale Netzwerke technisch erlauben. Bei Facebook liegt die maximal erreichbare Anzahl bei fünftausend. Mehr Freunde, so schreibt Facebook, könne einfach niemand haben. Diese Grenze ist offensichtlich völlig willkürlich gewählt. Wenn man jährlich nur schmale fünf Minuten Kommunikation mit jedem einplante, den man Freund sich zu nennen traut, dann bräuchte man zweiundfünfzig Arbeitstage im Jahr allein zur Erhaltung der 5000 Freundschaften. Und da ist noch kein einziger Jobverlust, Liebeskummer oder Umzug eingerechnet, soziale Vorgänge, die unter Freunden ständig auftreten und intensivsten Austausch erfordern, wie man weiß. Dabei ist das Irritierendste an der 5000 -Freunde-Grenze ohnehin, dass diese sozialen Verbindungen überhaupt Freunde genannt werden. «Kontakte» wäre treffender. Im täglichen Sprachgebrauch ist oft die Rede von «Facebook-Freunden» oder «Friends», um den Unterschied deutlich zu machen. Denn kein normaler Facebook-Nutzer glaubt ernsthaft, dass Freunde (Facebook) dasselbe sind wie Freunde (Welt).
Der britische Psychologe Robin Dunbar hat erforscht, ob eine tatsächliche Obergrenze der Anzahl unserer sozialen Kontakte existiert und wo sie liegt. In seinen Studien, basierend auf der Komplexität der Gehirns und dem Umgang in Gruppen, fand er es heraus: 150 Personen. Diese Zahl wird daher Dunbar-Zahl genannt. Das früheste Auftreten dieser Gruppengröße führte Dunbar zurück auf die gerade noch funktionale Größe von Steinzeitdörfern. Zu dieser Zeit entwickelte sich auch die heutige Form des menschlichen Hirns. Später hatten römische Truppeneinheiten diese Mannstärke. Aktuelle Forschungen zur optimalen Mitarbeiterzahl von Unternehmenseinheiten ergeben Ähnliches – 150 scheint die Zahl verschiedener Personen zu sein, zu denen ein Einzelner gerade noch stabile soziale Beziehungen haben kann.
Die durchschnittliche Anzahl von Kontakten auf Facebook liegt etwa bei 130 , jüngere Nutzer haben deutlich über 200 , die aktiveren Nutzer oft sogar weit über 300 Kontakte. Oberflächlichkeit kann auch ein Schutzmechanismus sein, der vor kennenlernfreudigen Horden schützt. Damit entsteht allerdings eine kognitive Dissonanz, eine Art Social-Media-Paradox. Die Funktion eines Profils ist es zwar, soziale Kontakte aufzubauen und pflegen zu helfen – aber wegen der vielen Reaktionen werden Neuankömmlinge abweisend, oberflächlich und arrogant behandelt. Als würden die Nutzer zwar mit einem Köder angeln, aber irre genervt sein, wenn ein Fisch anbeißt. Um diesem Paradoxon zu begegnen, gründeten ehemalige Facebook-Mitarbeiter Ende 2010 ein soziales Netzwerk namens Path. Es erlaubt maximal fünfzig Kontakte. Die Begrenzung soll die soziale Qualität des Netzwerks erhöhen, aber der Aufbau von Path verläuft etwas schleppend, daher ist unklar, ob das Modell langfristig funktioniert.
Bis Path entweder pleitegeht oder
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