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Intimitaet und Verlangen

Intimitaet und Verlangen

Titel: Intimitaet und Verlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schnarch
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zusammen wichtige Hausarbeiten erledigt, um ihre Mutter zu unterstützen. Wenn die Mutter aus irgendeinem Grund erschöpft gewesen war, hatte sie sich tagelang in ihr Zimmer zurückgezogen. Außerdem war sie eine egozentrische und brutale Frau gewesen, der es Freude gemacht hatte, das Lächeln auf den Gesichtern ihrer Kinder erstarren zu lassen. Das einzige, was sie wirklich gut konnte, war Nähen. Die Situation verschlimmerte sich, als Kates Schwester mit 18 Jahren heiratete und auszog. Danach hielt auch Kate sich von der elterlichen Wohnung möglichst oft fern; doch die Mutter spielte mitihr mentale Katz-und-Maus-Spiele, um sie an sich zu fesseln. Wenn es Kate gelang auszubrechen, verbrachte sie einen großen Teil ihrer Zeit auf Partys und mit Sex.
    Wie hatte sich Kates Bild so radikal verändern können? Bisher war ihre autobiographische Erinnerung sehr unvollständig gewesen. Lücken im autobiographischen Gedächtnis treten oft nach traumatischen Erlebnissen oder nach dem Erleben überwältigender Umstände auf. Die Art, wie Kate die Dinge vorher gesehen hatte, gelangte in ihrem Bild der verbliebenen Details zum Ausdruck. Weil etliche wichtige Teile fehlten, konnte Kate die Einzelheiten arrangieren, wie es ihr gefiel. Das Bild eines Menschen von seinem Leben ist so ungenau, dass es ihm gelingt, seiner Angst Herr zu werden, und andererseits so genau, dass der »Blödsinnsdetektor« nicht aktiviert wird. Letzteres galt insbesondere für Kates große Lücken im autobiographischen Gedächtnis.
    Auch Paul verändert sich
    Auch Paul durchlief eine Wandlung. Ihm wurde klar, dass er mit einem hohen Wutpegel lebte. Dies war seine automatische Reaktion auf fast alles in seinem Leben. Was Paul beunruhigte, ließ in ihm Wut aufwallen. Als ihm dies klar wurde, ängstigte seine generelle Reaktion ihn. Dass Kate sich all die Jahre über seine Wut beklagt hatte, gewann für ihn nun eine völlig neue Bedeutung. Bisher hatte Paul diese Vorfälle unter der Rubrik Kate ist ein verrücktes Miststück verbucht. Nun sorgte er sich und fragte sich: Was zum Teufel ist nur mit mir los?
    Paul konfrontierte sich mit seiner Wut, in der er die typische Reaktion seines Gehirns auf Angst und Stress erkannte. In Situationen, die ihn emotional überbeanspruchten (was oft der Fall war), kam seine Wut zum Vorschein. Aufgrund seines Wandlungsprozesses verfing er sich nicht mehr so leicht in seinen Gedanken und Gefühlen, wenn er wütend wurde. Er merkte nun, wenn seine Emotionen außer Kontrolle zu geraten drohten und dass es dann wichtig war, sich zusammenzureißen und den eigenen Zustand wieder unter Kontrolle zu bringen. Wenn ihm dies nicht gelänge, wäre es auch unnütz, intellektuell zu verstehen, weshalb ein bestimmter Reiz ihn in Rage gebracht hatte. Statt seine Gefühle auszudrücken , musste Paul lernen, sie zu tolerieren .
    Wie anderen Klienten gelang es auch Paul allmählich, mit Hilfe der Vier Aspekte der Balance seine Wut zu mäßigen. Im übrigen wurde er nun ganz generell seltener wütend. Seine Ehe wurde stabiler und seine Allianz mit Kate noch stärker. Paul und Kate vermochten ihre Emotionen besser zu ertragen, sie gerietennicht mehr so leicht in eine Krise, wurden in Krisen mit ihren Gefühlen besser fertig und ertrugen es, wenn andere Menschen in einer Krise waren.
    In einer Sitzung sagte Paul: »Wissen Sie noch, dass ich gesagt habe, ich könnte mich nicht an meine Kindheit erinnern? Nachdem mir meine Wut bewusster geworden ist, erinnere ich mich auch wieder daran, dass mein Vater schreckliche Wutanfälle bekam. Ich habe das irgendwie immer gewusst, dieses Wissen aber nicht zugelassen. Jetzt ist mir klar, dass ich es nicht wissen wollte . Es ist, als hätte ich diese Informationen in der falschen Rubrik abgespeichert. Obwohl sie sich unmittelbar vor meinen Augen befanden, konnte ich sie nicht sehen.
    Soweit ich mich erinnere, musste mein Vater immer lange arbeiten. So hieß es jedenfalls in meiner Familie. Er war ein wichtiger leitender Angestellter, und wir mussten Verständnis für den Stress haben, unter dem er ständig litt. Dies war die Erklärung für alles. Doch wenn er seine Wutanfälle bekam, standen wir jedes Mal unter Schock. Wir verbargen das, weil man sofort zum Sündenbock wurde, wenn man auch nur im Geringsten anklingen ließ, dass er sich wie ein Arschloch verhielt. Einmal habe ich

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