Intrige (German Edition)
Karriere zu ruinieren. Das ist der Punkt. Vierundzwanzig Jahre hat es gedauert, so weit zu kommen. Allerdings wird meine Karriere ihren Sinn verlieren, ihre Ehre und ihren Stolz, genau die Wesenszüge, ohne die sie wertlos ist, wenn ich dafür den Preis zahle, nichts weiter als einer der Gonses dieser Welt zu werden.
Res iudicata!
Als es dunkel wird und ich aufstehe, um Licht zu machen, habe ich entschieden, dass es nur einen Weg für mich gibt. Ich werde Boisdeffre und Gonse übergehen und mein Privileg des ungehinderten Zugangs zum Hôtel de Brienne nutzen. Ich werde den Fall dem Kriegsminister persönlich unterbreiten.
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Jetzt beginnt sich etwas zu rühren. Risse im Gletscher, ein Zittern unter der Erdoberfläche, schwache Warnsignale, dass die starken Mächte sich in Bewegung setzen.
Seit Monaten ist Dreyfus in der Presse kein Thema mehr gewesen. Aber am Tag nach meinem Besuch bei Gonse sieht sich das Kolonialministerium genötigt, ein wildes Gerücht in der Londoner Presse zu dementieren, dass Dreyfus von der Teufelsinsel geflohen sei. Ich denke mir nichts dabei: Journalisten eben, obendrein englische.
Am Dienstag dann bringt Le Figaro auf der ersten Seite eine Geschichte über zweieinhalb Spalten mit der Überschrift »Dreyfus’ Gefangenschaft«. Der Artikel ist ein präziser, fun dierter und mitfühlender Bericht über das, was Dreyfus auf der Teufelsinsel zu ertragen hat. (»Vierzig- bis fünfzigtausend Francs im Jahr, um einen Offizier am Leben zu erhalten, der seit seiner öffentlichen Degradierung einen Tod erleidet, der schlimmer ist als der Tod.«) Ich nehme an, dass die Informationen von der Familie Dreyfus stammen.
Vor diesem Hintergrund mache ich mich am nächsten Tag auf den Weg, um den Minister zu informieren.
Ich sperre das Gartentor auf, gehe unbemerkt von neugierigen Augen im Ministerium über den Rasen und betrete durch den Hintereingang seinen offiziellen Amtssitz.
Der alte Bursche ist nach einer Woche Urlaub heute zum ers ten Mal wieder im Büro. Er scheint guter Laune zu sein. Die Knollennase und die kahle Schädeldecke haben zu viel Sonne abbekommen. Die Haut schält sich. Er sitzt aufrecht da, streicht sich über seinen ausladenden, weißen Schnurrbart und beobachtet amüsiert, wie ich zum wiederholten Mal meine Unterlagen zum Fall Dreyfus ausbreite. »Großer Gott! Ich bin ein alter Mann, Picquart. Meine Zeit ist kostbar. Wie lange soll das denn noch dauern?«
»Ich befürchte, Herr Minister, das ist auch Ihre Schuld.«
»Hört, hört! Die Dreistigkeit der Jugend! Meine Schuld? Da bin ich aber gespannt.«
»Sie haben Ihren Untergebenen freundlicherweise erlaubt, mir diese Briefe des mutmaßlichen Landesverräters Esterházy zu überlassen«, sage ich und schiebe die Briefe über den Tisch. »Und da ist mir leider die ausgeprägte Ähnlich keit zu dem hier aufgefallen.« Ich gebe ihm die Fotografie des Bordereaus.
Wieder bin ich überrascht, wie schnell seine Auffassungsgabe ist. Er ist zwar uralt – er war schon Hauptmann der Infanterie, als ich noch gar nicht geboren war –, begreift aber sofort die Konsequenzen, während er zwischen den Schriftstücken hin und her blickt. »Donnerwetter!« Er schnalzt mit der Zunge. »Sie haben vermutlich die Handschriften überprüfen lassen, oder?«
»Vom ursprünglichen Gutachter der Polizei, ja, Alphonse Bertillon. Er sagt, die Handschriften sind identisch. Natürlich würde ich gern noch andere Meinungen einholen.«
»Haben Sie das schon General Boisdeffre gezeigt?«
»Ja.«
»Was sagt er?«
»Er hat mich an General Gonse verwiesen.«
»Und Gonse?«
»Will, dass ich die Ermittlungen einstelle.«
»Ach, tatsächlich? Warum?«
»Weil er glaubt, wie ich auch, dass weitere Nachforschungen fast mit Sicherheit einen Prozess in Gang setzen würden, der zu einer offiziellen Überprüfung der Dreyfus-Affäre führen würde.«
»Großer Gott! Das wäre ein Erdbeben!«
»Ganz gewiss, Herr Minister. Zumal wir preisgeben müss ten, dass das hier existiert …«
Ich gebe ihm das Geheimdossier. Er sieht es sich mit zusammengekniffenen Augen an. »D? Was zum Teufel bedeutet das?« Er hat noch nie davon gehört. Ich muss es ihm erklären. Ich zeige ihm den Inhalt, Stück für Stück. Und wieder kommt er sofort zum Kern der Sache. Er nimmt den Brief, in dem es um den Lump D geht, und hält ihn sich dicht vor die Augen. Beim Lesen bewegt er die Lippen. Sein Handrücken ist so schuppig wie sein Schädel und mit Altersflecken besprenkelt:
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