Intrige (German Edition)
was wir machen, es wird langsam kälter, und wir sollten in den nächsten ein, zwei Tagen die Hörrohre wieder rausholen. Wenn die Deutschen dem nächst wieder den Kamin anzünden, dann kriegen wir Ärger.«
»Dann lassen Sie mich zur Abwechslung mal Ihnen etwas zeigen«, sage ich und schiebe die Fotografien der Esterházy- Briefe mit der Vorderseite nach unten über den Tisch. »Wohltäter versucht einen Posten im Generalstab zu ergattern.«
Desvernine schaut sich die Briefe an, und sofort hellt sich sein Gesicht auf. »Dieser Scheißkerl!«, sagt er leise mit zufrie dener Stimme. »Der muss mehr Schulden haben, als wir dachten.«
Gern würde ich ihm von dem Bordereau, Dreyfus und dem Geheimdossier erzählen, aber ich wage es nicht, noch nicht – nicht bevor ich die offizielle Erlaubnis von Billot habe, den Rahmen meiner Untersuchung auszudehnen.
»Wie sollen wir jetzt weiter vorgehen, Herr Oberstleutnant?«, fragt Desvernine.
»Ich glaube, wir müssen deutlich aktiver werden. Ich werde dem Minister vorschlagen, dass er Wohltäters Antrag stattgibt und ihm eine Stelle im Generalstab besorgt, und zwar in einer Abteilung, in der wir ihn rund um die Uhr über wachen können. Er muss glauben, dass er Zugang zu Geheimmaterial hat – etwas, was scheinbar wertvoll, aber von uns gefälscht ist. Und dann sehen wir ja, was er damit macht.«
»Gute Idee. Und wenn wir uns schon die eine kleine Fälscherei genehmigen, könnten wir doch gleich noch eine draufsetzen. Warum schicken wir ihm nicht eine gefälschte Einladung der Deutschen, die ihn zu einem Gespräch über seine Zukunft bitten? Wenn Wohltäter auftaucht, dann ist das schon belastend an sich. Und wenn er mit Geheim material auftaucht, dann haben wir ihn in flagranti er wischt.«
Ich denke darüber nach. »Haben Sie einen Fälscher an der Hand?«
»Ich würde Lemercier-Picard vorschlagen.«
»Ist er vertrauenswürdig?«
»Er ist ein Fälscher, Herr Oberstleutnant. Er ist ungefähr so vertrauenswürdig wie eine Schlange. Sein richtiger Name ist Moisés Lehmann. Aber er hat viel für die Abteilung ge arbeitet, als Oberst Sandherr noch der Chef war, und er weiß genau, dass wir ihm auf die Pelle rücken, wenn er irgendwelche Tricksereien versucht. Ich finde heraus, wo er ist.«
Desvernine verlässt die Bar wesentlich zufriedener, als er sie betreten hat. Ich bleibe noch und trinke aus, dann fahre ich mit einer Droschke nach Hause.
•
Am nächsten Tag fühle ich mich plötzlich wie im Herbst – ein bedrohlich dunkelgrauer Himmel, Wind, der die ersten Blätter von den Bäumen weht und über die Boulevards wirbelt. Desvernine hat recht. Die Hörrohre müssen so schnell wie möglich aus der Wohnung in der Rue de Lille verschwinden.
Ich komme zur üblichen Zeit ins Büro und gehe schnell die Tageszeitungen durch, die Capiaux mir auf den Schreib tisch gelegt hat. Der Artikel im Figaro über Dreyfus’ Haft bedingungen auf der Teufelsinsel hat überall den Bodensatz der allgemeinen Vorurteile über Dreyfus wieder aufgerührt. Lasst ihn noch mehr leiden, scheint die vorherrschende Stimmung zu sein. Aber im Éclair steht eine Geschichte, an der ich hängen bleibe – ein anonymer Artikel mit der Überschrift »Der Verräter«, in dem behauptet wird, dass ein Geheimdossier, das den Richtern während des Prozesses übergeben worden sei, zweifelsfrei Dreyfus’ Schuld beweise. Der Autor fordert die Armee auf, den Inhalt zu veröffentlichen, um der, wie er schreibt, nicht nachvollziehbaren Gefühlsduselei rund um den Spion ein Ende zu setzen.
Das ist das erste Mal, dass die Existenz des Geheimdossiers in der Presse erwähnt wird. Der Zufall, dass das ausgerechnet jetzt passiert, kurz nachdem das Dossier in meinen Besitz gelangt ist, beunruhigt mich. Ich gehe durch den Korridor zu Lauths Büro und werfe ihm die Zeitung auf den Schreibtisch. »Schon gesehen?«
Lauth liest den Artikel und schaut mich erschrocken an. »Jemand muss geredet haben.«
»Holen Sie Guénée her«, befehle ich ihm. »Er hat den Auftrag, die Dreyfus-Familie zu überwachen. Sagen Sie ihm, ich will ihn sofort sehen.«
Ich gehe in mein Büro zurück, öffne den Tresor und nehme das Geheimdossier heraus. Ich setze mich an den Schreibtisch und mache eine Liste mit allen Leuten, die davon wissen: Mercier, Boisdeffre, Gonse, Sandherr, du Paty, Henry, Lauth, Gribelin, Guénée; dank meinem gestrigen Besuch kommt jetzt noch Billot dazu – macht zehn; dann die sieben Richter, beginnend mit Oberst
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