Intrige (German Edition)
Maurel – macht siebzehn; und Präsident Fauré, der Arzt des Präsidenten, Gibert – macht neunzehn; wer war noch der Mann, der Mathieu Dreyfus davon erzählt hat? – das sind dann zwanzig; und wer weiß, wie vielen Mathieu danach davon erzählt hat.
Es gibt keine Geheimnisse mehr – keine richtigen, nicht in der modernen Welt, nicht seit es Fotografie, Telegrafie, Eisen bahnen und Zeitungspressen gibt. Die alten Zeiten, in denen sich ein innerer Kreis Gleichgesinnter mittelst Pergament papier und Federkiel untereinander austauschte, sind vorbei. Früher oder später kommt alles ans Licht. Das ist es, was ich Gonse zu erklären versucht habe.
Ich massiere meine Schläfen und versuche, alles noch einmal zu durchdenken. Die Tatsache, dass es eine undichte Stelle gibt, müsste eigentlich meinen Standpunkt rechtfertigen. Aber mir schwant, dass Gonse und Boisdeffre wahrscheinlich in Panik verfallen und sich in ihrer Entschlossenheit bestärkt sehen, die Nachforschungen einzugrenzen.
Guénée kommt am späten Vormittag in mein Büro. Wie immer sieht seine Haut wie die eines Gelbsüchtigen aus, und er riecht wie das Innere einer alten Tabakspfeife. Er hat die Überwachungsakte der Familie Dreyfus dabei. Er schaut sich nervös um. »Ist Major Henry da?«
»Henry ist noch im Urlaub. Sie müssen mit mir vorliebnehmen.«
Guénée setzt sich und öffnet seinen Ordner. »Die Dreyfus-Familie steckt dahinter, Herr Oberstleutnant. Mit großer Wahrscheinlichkeit.«
»Obwohl der Ton in dem Éclair -Artikel so feindselig gegenüber Dreyfus ist?«
»Das soll nur ihre Spuren verwischen. Sie haben sich an den Herausgeber Sabatier herangemacht – wir haben ihn bei Treffen mit Mathieu und auch mit Lucie beobach tet. Das passt zu einem Muster verstärkter Anstrengun gen, die die Familie in letzter Zeit unternimmt – wie Sie vielleicht bemerkt haben. Sie haben die Cook Detective Agency in London engagiert, die Informationen ausgraben soll.«
»Und, haben sie etwas ausgegraben?«
»Nicht dass wir wüssten, Herr Oberstleutnant. Vielleicht haben sie deshalb ihre Strategie geändert und sich dazu entschlossen, verstärkt an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Journalist, der die falsche Geschichte von Dreyfus’ Flucht platziert hat, war von der Detektei angeheuert.«
»Warum sollten sie das tun?«
»Ich nehme an, um ihn wieder ins Gespräch zu bringen.«
»Tja, das haben sie ja auch geschafft, oder?«
Guénée zündet sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an, ehe er antwortet. »Erinnern Sie sich noch, dass ich Ihnen vor einem Jahr erzählt habe, dass die Familie auf einen jüdischen Journalisten zugegangen ist – Bernard Lazare? Anarchist, Sozialist, jüdischer Aktivist?«
»Was ist mit ihm?«
»Anscheinend schreibt er gerade an einem Pamphlet zur Ehrenrettung von Dreyfus.«
Er blättert seine Akte durch und gibt mir eine Fotografie, auf der ein stämmiger, jugendlich wirkender Mann mit Knei fer, breiter Halbglatze und dichtem Vollbart zu sehen ist. Angeheftet sind einige von Lazare geschriebene Zeitungsartikel: »Das Neue Ghetto«, »Antisemitismus und Antisemiten«, eine Serie kürzlich in La Voltaire erschienener Artikel, in der er Édouard Drumont von La Libre Parole angreift (»Sie sind nicht unverwundbar, weder Sie noch Ihre Freunde …«).
»Ziemlich polemisch, der Bursche«, sage ich, während ich die Artikel durchblättere. »Und er arbeitet jetzt mit Mathieu Dreyfus zusammen?«
»Zweifellos.«
»Also noch einer, der über das Geheimdossier Bescheid weiß.«
Guénée zögert. »Ja, wahrscheinlich.«
Ich setze Lazares Name auf die Liste. Macht einundzwanzig. Ein hoffnungsloses Unternehmen. »Wissen wir, wann ungefähr Lazares Pamphlet erscheint?«
»Von unseren Quellen im Druckergewerbe haben wir nichts gehört. Vielleicht wollen sie es im Ausland unter die Leute bringen. Wir wissen es nicht. Sie sind inzwischen wesentlich professioneller geworden.«
»Was für ein Schlamassel!« Ich werfe Lazares Foto über den Schreibtisch zu Guénée zurück. »Dieses Geheimdossier wird uns noch großen Ärger machen. Sie haben doch bestimmt auch daran mitgearbeitet, oder?«
Die Frage klingt nicht nach Verhör, sondern völlig beiläufig. Zu meiner Überraschung runzelt Guénée die Stirn und schüttelt den Kopf, als durchforstete er angestrengt sein Gedächtnis. »Nein, Herr Oberstleutnant, ich nicht.«
Die dumme Lüge lässt bei mir alle Warnlampen aufleuchten. »Nein? Die Aussage des spanischen
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