Intrige (German Edition)
den Rest der Reise nicht mehr verlasse.
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Als wir am Spätnachmittag des nächsten Tages in Marseille anlegen, geht ein Sommerschauer über der Stadt nieder. Er kommt mir wie ein unheilvoller Willkommensgruß vor. Ich haste zum Gare Saint-Charles und kaufe mir eine Fahrkarte für den nächsten Zug nach Paris. Ich bin mir bewusst, dass ich mich gerade jetzt in höchster Gefahr befinde. Ich muss davon ausgehen, dass Savignaud meine Reise nach Tunis gemeldet und inzwischen auch durchgegeben hat, dass ich nicht mehr nach Sousse zurückgekehrt bin. Gonse und Henry könnten also schon durchaus herausgefunden haben, dass ich auf dem Weg nach Paris bin. Sie mussten nur bei Leclerc nachfragen. Wenn ich Henry wäre, dann hätte ich dem Polizeipräfekten von Marseille telegrafiert und ihn aufgefordert, für alle Fälle den Bahnhof zu überwachen.
Versteckt hinter einer Zeitung, drücke ich mich so lange unter der Bahnhofsuhr herum, bis ich kurz vor sieben den Pfiff des Schaffners höre und der Zug nach Paris sich in Be wegung setzt. Ich schnappe mir meinen Koffer, drängele mich an dem Wachmann vorbei, der vergeblich versucht, mich aufzuhalten, und laufe durch die Sperre auf den Perron. Ich reiße die letzte Tür des letzten Waggons auf und spüre die Spannung im Schultergelenk, als der Zug Fahrt auf nimmt. Ich werfe den Koffer durch die Tür und schaffe es in letzter Sekunde, aufzuspringen und die Tür hinter mir zuzuschlagen. Ich stecke den Kopf aus dem Fenster und blicke zurück. In etwa fünfzig Metern Entfernung sehe ich einen Mann auf dem Perron, einen korpulenten, glatzköpfigen Burschen in braunem Anzug, der den Zug verpasst hat. Er hat die Hände auf die Knie gestützt und versucht wieder zu Atem zu kommen, während er von dem Wachmann zurechtgewiesen wird. Ob es sich um einen normalen Reisen den handelt, der einfach zu spät gekommen ist, oder um einen Agenten der Sûreté, der mir auf den Fersen war, werde ich nie erfahren.
Die Waggons sind überfüllt. Ich muss fast durch den ganzen Zug gehen, bis ich ein Abteil finde, wo ich mich auf einen Eckplatz quetschen kann. Die meisten meiner Mitreisenden sind Geschäftsleute. Außerdem ein Priester und ein Armeemajor, der immer wieder in meine Richtung schaut, als ob er einen anderen Soldaten auch in Zivil erkennen würde. Ich verstaue meinen Koffer nicht in der Ablage über mir, sondern behalte ihn auf den Knien für den Fall, dass ich einschlafen sollte. Das Schwanken des Zuges lullt mich ein, und als es dunkler wird, schlafe ich trotz meiner nervösen Anspannung tatsächlich ein, auch wenn ich im Lauf der Nacht mehrmals wieder aus dem Schlaf gerissen werde, wenn der Zug in einem von Gaslaternen beleuchteten Bahnhof hält oder jemand das Abteil verlässt oder betritt. Die frühe Morgendämmerung eines Junitages weckt mich schließlich auf. Das triste und graue Tageslicht kriecht wie ein Schleier aus Asche über die südlichen Ausläufer der Stadt.
Ich gehe durch den ganzen Zug bis in den ersten Waggon hinter der Lok und steige als Erster aus, als wir um fünf Uhr im Gare de Lyon ankommen. Mein Blick geht in alle Richtungen, während ich schnell die verlassene Bahnhofshalle durchquere. Aber ich sehe nur ein paar abgerissene Gestalten, les ramasseurs de mégots, die Zigarettenkippen aufsam meln, um den Tabak dann zu verkaufen. »Rue Cassette 1 6«, sage ich zu dem Droschkenkutscher und rutsche tief in den Sitz. Eine Viertelstunde später fahren wir am Jardin du Luxembourg entlang und biegen dann in eine schmale Straße ein. Als ich bezahle, schaue ich mich nach allen Seiten um. Nirgendwo ist ein Mensch in Sicht.
Ich klopfe an die Wohnungstür im zweiten Stock. Laut genug, die Bewohner zu wecken, aber nicht so laut, dass sie sich erschrecken – das hoffe ich zumindest. Leider ist es unmöglich, jemand um halb sechs morgens aus dem Bett zu scheuchen, ohne ihm Angst einzujagen. Das begreife ich in dem Augenblick, als meine Schwester die Tür öffnet und ich ihre Augen sehe. Mit verkrampften Händen drückt sie sich das Nachthemd an den Hals, während ich erschöpft und in den Staub und Geruch Afrikas gehüllt vor ihr stehe.
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Mein Schwager Jules Gay setzt Kaffeewasser auf, während Anna das alte Kinderzimmer für mich herrichtet. Sie gehen auf die sechzig zu und sind jetzt ein alleinstehendes Ehepaar. Ich spüre, dass sie mich gern aufnehmen, dass sie froh sind, sich um jemand kümmern zu können.
»Es wäre mir recht, wenn niemand erfahren würde, dass ich hier
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