Intrige (German Edition)
Korps einen Bericht zu verfassen. Natürlich habe ich um Erlaubnis gebeten, nach Paris zurückfahren zu dürfen, wenigstens für ein paar Stunden, damit ich mir ein paar frische Sachen zum Anziehen holen könne. Das wurde aber glattweg abgelehnt … Hier, das Telegramm.« Ich gebe es ihm. »Alle Briefe, die ich aufgehoben habe, sind von meinem direkten Vorgesetzten, General Charles-Arthur Gonse, der jede Versetzung angeordnet hat – insgesamt vierzehn. Von Nancy ging es nach Besançon. Dann nach Marseille. Dann nach Lyon. Dann nach Briançon. Dann wieder zurück nach Lyon, wo ich krank geworden bin. Das ist der Brief, den mir Gonse nach Lyon geschickt hat: Es tut mir leid, dass Sie erkrankt sind, aber ich hoffe, Sie erholen sich in Lyon gut und kommen wieder zu Kräften. Währenddessen bereiten Sie sich auf die Abreise nach Marseille und Nizza vor …«
»Und in der ganzen Zeit hat man dir nicht erlaubt, nach Paris zu fahren? Nicht einmal für einen Tag?«
»Hier, schau selbst.«
Louis nimmt die Handvoll Briefe und geht sie kopfschüttelnd durch. »Aber das ist doch lächerlich …«
»Man hat mir mitgeteilt, dass ich den Kriegsminister an Weihnachten in Marseille treffen würde, aber der hat sich dort nicht blicken lassen. Stattdessen habe ich den Befehl erhalten, mich sofort nach Algerien einzuschiffen, das war also Ende letzten Jahres, um dort den Nachrichtendienst neu zu organisieren. Und einen Monat später wurde ich von Algerien nach Tunis beordert. Ich war kaum angekommen, da hat man mich von meinem alten Regiment zu einer Eingeborenentruppe versetzt. Plötzlich war es keine Inspektionsreise mehr, sondern eine dauerhafte Versetzung in die Kolonien.«
»Aber du hast doch bestimmt Widerspruch eingelegt, oder nicht?«
»Natürlich. Gonse’ schlichte Antwort lautete, dass ich aufhören soll, ihm dauernd Briefe zu schreiben. Er hat mich aufgefordert, den – seine Worte – Dingen ihren Lauf zu lassen und zufrieden damit zu sein, in einem Regiment in Afrika zu dienen. Im Grunde haben die mich ins Exil geschickt.«
»Haben sie dir einen Grund genannt?«
»Das brauchen sie nicht. Ich kenne den Grund. Es ist eine Strafe.«
»Eine Strafe? Wofür?«
Ich atme durch. Es kommt mir immer noch verwerflich vor, es laut auszusprechen. »Dafür, dass ich herausgefunden habe, dass Hauptmann Dreyfus unschuldig ist.«
»Ah.« Louis starrt mich an, und ausnahmsweise scheint sogar bei ihm die Maske professioneller Abgeklärtheit einen feinen Riss zu bekommen. »Ja, ich verstehe. Das reicht.«
•
Ich gebe Louis den Umschlag, der im Falle meines Todes dem Präsidenten ausgehändigt werden soll. Beim Lesen der Beschriftung verzieht er das Gesicht. Wahrscheinlich hält er sie für melodramatisch, für eine Art Kunstgriff, wie sie in reißerischen Fortsetzungsromanen vorkommt. Noch vor einem Jahr hätte ich das Gleiche gedacht. Inzwischen glaube ich, dass in solchen Reißern manchmal mehr Wahrheit steckt als im Sozialrealismus aller Romane von Monsieur Zola zusammen.
»Na los«, sage ich, zünde mir eine Zigarette an und beobachte seinen Gesichtsausdruck, während er den Brief aus dem Umschlag nimmt. Er liest laut den ersten Absatz: »Ich, der unterzeichnete Marie-Georges Picquart, Oberstleutnant im 4 . Tunesischen Schützenregiment, ehemaliger Leiter der Geheimdienstabteilung im Kriegsministerium, versichere bei meiner Ehre die Richtigkeit der folgenden Angaben, die man zurückzuhalten versucht hat, die aber im Interesse von Wahrheit und Gerechtigkeit auf keinen Fall …« Er verstummt, runzelt die Stirn und schaut mich dann an.
»Du kannst immer noch nein sagen, wenn du dich nicht darauf einlassen willst«, sage ich. »Ich würde dir das keine Sekunde übel nehmen. Aber ich warne dich: Wenn du jetzt weiterliest, dann steckst du in der gleichen Zwickmühle wie ich.«
»Das klingt ja ziemlich unwiderstehlich.« Er liest weiter, jetzt aber schweigend. Seine Augen bewegen sich schnell hin und her, während er die Zeilen überfliegt. Als er fertig ist, bläst er seufzend die Backen auf, lehnt sich zurück und schließt die Augen. »Wie viele Kopien gibt es von diesem Brief?«
»Keine.«
»Was? Und du hast den Brief den ganzen Weg von Tunesien bis Paris bei dir gehabt?« Er schüttelt fassungslos den Kopf. »Also, als Erstes musst du mindestens zwei Kopien davon machen. Wir brauchen drei Exemplare, das ist das absolute Minimum. Was hast du noch in dem alten Koffer da?«
»Das hier«, sage ich und gebe ihm meinen
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