Intrige (German Edition)
Stille mit erbitterter Stimme. »Dass die vom Generalstab hier ihren Müll abkippen. Nichts gegen Sie, aber die schicken jeden Querulanten, Perversling und adligen Kretin in der Armee hier runter zu mir, und eins kann ich Ihnen sagen, mich kotzt es langsam an!« Er klopft nachdenklich mit dem Fuß auf die Holzbohlen. »Geben Sie mir Ihr Wort, dass Sie nichts Ungesetzliches oder Unmoralisches angestellt haben – dass Sie einfach nur Ärger mit diesen Schreibtischgenerälen in der Rue Saint-Dominique haben?«
»Bei meiner Ehre.«
Er setzt sich wieder an seinen Schreibtisch und fängt an zu schreiben. »Reicht eine Woche?«
»Mehr brauche ich nicht.«
»Ich will gar nicht wissen, was Sie vorhaben«, sagt er, noch während er schreibt. »Also, behalten Sie es für sich. Ich werde das Ministerium nicht darüber informieren, dass Sie Tunesien verlassen haben. Wenn die mir draufkommen, werde ich sagen, dass ich Soldat bin und nicht Gefängniswärter. Aber ich werde nicht lügen, verstanden?« Als er fertig ist, bläst er über die Tinte und gibt mir das Schreiben. Es ist die vom Kommandierenden General, Tunesien, unterzeichnete offizielle Genehmigung für Oberstleutnant Picquart vom 4 . Tunesischen Schützenregiment, das Land aus dringenden familiären Gründen verlassen zu dürfen. Das ist das erste Mal, dass ich von offizieller Seite Hilfe erhalte. Ich habe Tränen in den Augen, aber Leclerc nimmt scheinbar keine Notiz davon.
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Das nächste Schiff nach Marseille soll am folgenden Tag um zwölf Uhr mittags ablegen. Ein Angestellter der Dampfschifffahrtsgesellschaft sagt mir – »mit aufrichtigem Bedauern, Herr Oberstleutnant« –, dass die Fähre schon voll sei. Ich muss ihn gleich zweimal schmieren – erstens dafür, dass er eine winzige Zweierkabine für mich allein reserviert, und zweitens dafür, dass mein Name nicht auf der Passagierliste erscheint. Ich übernachte in einer Pension in Hafennähe und gehe früh am nächsten Morgen in Zivil an Bord. Trotz der glühenden Hochsommerhitze kann ich mich nicht an Deck aufhalten und riskieren, erkannt zu werden. Ich gehe nach unten, schließe die Tür ab, ziehe mich nackt aus und lege mich in die untere Koje. Während ich schweißgebadet daliege, muss ich wieder an Dreyfus denken, diesmal daran, wie er seine Lage auf dem Kriegsschiff beschrieben hat, nachdem es vor der Teufelsinsel den Anker gesetzt hatte: Ich musste vier Tage lang in der tropischen Hitze ausharren, eingesperrt in meine Zelle, ohne ein einziges Mal an Deck zu dürfen . Als die Maschinen losbullern, ist es in meiner Eisenzelle so heiß wie in einem Dampfbad. Alle Flächen vibrieren, während sich das Schiff von der Anlegestelle löst. Durch das Bullauge sehe ich, wie sich die afrikanische Küste immer weiter entfernt. Erst als ich nur noch das blaue Mittelmeer sehen kann, schlinge ich mir ein Handtuch um die Hüften, klingele nach dem Steward und bestelle mir etwas zu essen und zu trinken.
Ich habe ein russisch-französisches Wörterbuch und Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch eingepackt. Mit einem Kissen im Kreuz, neben mir Stift und Papier, liege ich in der Koje, balanciere auf den Knien die beiden Bücher und mache mich an die Übersetzung. Die Arbeit lässt mich die Zeit und sogar die Hitze vergessen. »Sich nur um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern zeugt eindeutig von schlechter Erziehung. Sei es nun gut oder schlecht, manchmal macht es auch großen Spaß, etwas zu zerstören …«
Um Mitternacht ist Ruhe eingekehrt. Ich wage mich die Eisentreppe hinauf und betrete vorsichtig das Deck. Die Geschwindigkeit des Schiffes sorgt für eine warme nördliche Brise von dreizehn Knoten. Ich gehe zum Bug, recke das Gesicht in den Wind und sauge ihn in mich auf. In allen Himmelsrichtungen Dunkelheit. Das einzige Licht kommt von oben. Zahllose Sterne und ein durch die Wolken jagender Mond, der aussieht, als lieferte er sich ein Rennen mit uns. Nicht weit entfernt beugt sich ein männlicher Passagier über die Reling und unterhält sich leise mit einem Mitglied der Mannschaft. Ich höre Schritte hinter mir, drehe mich um und sehe die rote Glut einer Zigarre, die sich mir nähert. Ich gehe auf der anderen Seite des Schiffs schnell bis zum Heck, wo ich eine Zeit lang ins Kielwasser starre, das wie ein Kometenschweif flimmert. Als die scheinbar in der Dunkelheit schwebende Zigarre ein zweites Mal auftaucht, gehe ich wieder nach unten und weiter durch den langen Gang in meine Kabine, die ich für
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