Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
Henry?«
    »Ach, Henry ist ein guter Soldat. Er wird sich schon bald wieder reinknien und das tun, was für die Abteilung das Beste ist.«
    »Will er den Posten nicht?«
    »Doch, aber ihm fehlen die Ausbildung und der gesellschaftliche Schliff für so eine herausgehobene Position. Soweit ich weiß, hat der Vater seiner Frau eine Kneipe.«
    »Aber ich verstehe nichts von Spionage …«
    »Jetzt kommen Sie, mein lieber Picquart!« Gonse wird langsam gereizt. »Sie verfügen exakt über die Qualifikation für den Posten. Wo liegt das Problem? Schon wahr, offiziell existiert die Einheit nicht. Also keine Paraden oder Geschich ten in den Zeitungen. Und Sie werden auch niemand erzählen können, woran Sie gerade arbeiten. Aber jede wichtige Persönlichkeit wird genau wissen, was Sie machen. Sie haben täglichen Zugang zum Minister. Und natürlich werden Sie zum Oberstleutnant befördert.« Er schaut mich durchtrieben an. »Wie alt sind Sie?«
    »Vierzig.«
    »Vierzig! In der ganzen Armee gibt es niemand in Ihrem Alter mit diesem Rang. Denken Sie doch mal nach: Wahrscheinlich schaffen Sie es bis zum General, noch bevor Sie fünfzig sind! Und danach … Sie könnten es eines Tages zum Oberbefehlshaber bringen.«
    Gonse weiß genau, wie er mich anpacken muss. Ich bin ehrgeizig – hoffentlich aber nicht zerfressen davon: Ich weiß durchaus die Dinge des Lebens außerhalb der Armee zu schätzen. Trotzdem würde ich gern meine Talente so weit wie möglich ausreizen. Die Kalkulation: Nach ein paar Jahren auf einem Posten, den ich nicht sonderlich mag, liegen goldene Zeiten vor mir. Mein Widerstand bröckelt. Ich kapituliere.
    »Und wann wäre es so weit?«
    »Nicht sofort. In ein paar Monaten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es niemand gegenüber erwähnen würden.«
    Ich nicke. »Natürlich, ich werde tun, was immer die Armee von mir verlangt. Ich danke Ihnen für das Vertrauen. Ich werde versuchen, mich ihm würdig zu erweisen.«
    »Guter Mann! Ich bin mir sicher, das werden Sie. Und nun bestehe ich darauf, dass Sie den Kognak trinken, der da immer noch einsam neben Ihnen steht …«
    Damit ist es beschlossene Sache. Wir stoßen auf meine Zukunft an. Wir stoßen auf die Armee an. Und dann bringt Gonse mich hinaus. An der Tür legt er mir die Hand auf den Arm und drückt ihn väterlich. Sein Atem ist vom Kognak und Zigarettenrauch süßlich. »Ich weiß, was Sie denken: Spionieren ist keine anständige Arbeit für einen Soldaten, Picquart, aber das stimmt nicht. In der modernen Zeit ist das die vorderste Kampflinie. Wir kämpfen jeden Tag gegen die Deutschen. Sie haben mehr Männer und mehr Material. Sie wissen ja: Drei zu zwei! Also müssen wir bei der Nach richtenbeschaffung gerissener sein.« Der Druck seiner Hand wird stärker. »Die Enttarnung eines Verräters wie Dreyfus ist so überlebenswichtig für Frankreich wie ein Sieg auf dem Schlachtfeld.«
    Es hat wieder angefangen zu schneien. Auf der Avenue Victor-Hugo tänzeln Tausende Schneeflocken im Schein der Gaslampen. Ein weißer Teppich hat sich auf die Straße gelegt. Es ist seltsam. Ich stehe kurz davor, der jüngste Oberstleutnant in der französischen Armee zu werden, aber ich verspüre keine Hochstimmung.
    In meiner Wohnung erwartet mich Pauline. Sie hat immer noch das gleiche schlichte, graue Kleid an, das sie beim Essen getragen hat. So komme ich zu dem Vergnügen, es ihr auszuziehen. Sie dreht sich um und hebt beide Arme in die Höhe, sodass der oberste Haken am Rücken ihres Kleids frei liegt. Ich küsse sie auf den Nacken. »Wie lange haben wir?«, sage ich leise.
    »Eine Stunde. Er glaubt, ich bin in der Kirche. Deine Lippen sind kalt. Wo warst du?«
    Ich setze schon an, es ihr zu erzählen, erinnere mich dann aber am Gonse’ Anweisung. »Nirgendwo«, sage ich.

3
    Sechs Monate vergehen. Der Juni kommt. Die Luft erwärmt sich, und schon bald fängt Paris an nach Scheiße zu stinken. Der üble Geruch steigt aus den Abwasserkanälen und legt sich wie fauliges Gas über die Stadt. Wenn sich die Menschen vor die Tür wagen, tragen sie Leinenmasken oder halten sich Taschentücher vor die Nase, aber das hilft auch nicht viel. Die Experten in den Zeitungen sind sich einig, dass es während des sogenannten Großen Gestanks von 18 8 0 schlimmer war – ich kann dazu nichts sagen, weil ich damals in Algerien war –, aber in jedem Fall sind die ersten Tage des Sommers ruiniert. »Es ist unmöglich, auf den Balkon zu gehen«, jammert der Figaro . »Unmöglich, sich

Weitere Kostenlose Bücher