Intrige (German Edition)
auf die Terrasse eines der belebten, flotten Cafés zu setzen, dem Stolz unserer Boulevards, ohne darauf zu achten, dass man sich auf der windabgewandten Seite dieses ungehobelten, unsichtbaren Riesen niederlassen muss.« Der Geruch setzt sich in Haaren und Kleidung fest, in den Nasenlöchern und sogar auf der Zunge, sodass alles nach Fäulnis schmeckt. So ist die Stimmung an dem Tag, als ich die Leitung der Statistik-Abteilung übernehme.
Major Henry beschönigt die Lage, als er mich im Kriegsministerium abholt. »Das ist doch gar nichts. Sie hätten auf einem Bauernhof aufwachsen sollen! Menschenscheiße, Schweinescheiße: Wo ist der Unterschied?« In der Hitze glänzt sein glattes, fettes Gesicht wie das eines rosa Riesenbabys. Ein süffisant zitterndes Grinsen umspielt ständig seine Lippen. Oberstleutnant Picquart! Wenn er mich anspricht, betont er immer leicht übertrieben meinen Rang und schafft es, in einem einzigen Wort Respekt, Glückwünsche und Spott durchklingen zu lassen. Ich nehme es ihm nicht übel. Henry wird mein Stellvertreter, ein Trostpflaster dafür, dass er bei der Besetzung des Chefpostens übergangen wurde. Ab jetzt sind wir in Rollen gefangen, die so alt sind wie der Krieg. Er ist der erfahrene alte Soldat, der sich Rang um Rang hochgedient hat, der Spieß, der den Laden am Laufen hält; und ich der jüngere, theoretisch verantwortliche Offizier, der davor bewahrt werden muss, zu viel Schaden anzurichten. Wenn jeder von uns beiden den anderen nicht zu sehr reizt, sollten wir ganz gut miteinander auskommen.
Henry steht auf. »Also dann, Herr Oberstleutnant. Gehen wir?«
Ich habe nie zuvor einen Fuß in die Statistik-Abteilung gesetzt – was nicht überraschend ist, da nur wenige überhaupt von deren Existenz wissen. Deshalb habe ich Henry gebeten, mir alles zu zeigen. Ich rechne damit, in irgendeinen verschwiegenen Winkel des Ministeriums geführt zu werden. Stattdessen verlassen wir das Gebäude durch den Hintereingang und gehen zu Fuß den kurzen Weg bis zu einem uralten, schmuddeligen Haus an der Ecke zur Rue de l’Univer sité, an dem ich oft vorbeigelaufen bin und das ich immer für verlassen gehalten habe. Die schweren Fensterläden sind geschlossen. Neben der Tür hängt kein Namensschild. Das düstere Entree ist vom gleichen süßlichen Geruch nach un geklärtem Abwasser erfüllt wie der Rest von Paris, allerdings mit einem würzigen Schuss schimmeliger Feuchtigkeit. »Vor ein paar Jahren sollte das Gebäude abgerissen werden«, sagt Henry. »Oberst Sandherr hat das verhindert. Hier stört uns kein Mensch.«
»Da bin ich mir sicher.«
»Das ist Bachir.« Henry deutet auf den betagten arabi schen Concierge, der die blaue Uniform und Pluderhose eines Soldaten des algerischen Eingeborenenregiments trägt und in der Ecke auf einem Hocker sitzt. »Er kennt alle unsere Geheimnisse. Stimmt doch, Bachir, oder?«
»Ja, Herr Major!«
»Bachir, das ist Oberstleutnant Picquart …«
Wir treten in einen schwach beleuchteten Gang, und Henry öffnet eine Tür. Dahinter befindet sich eine Handvoll zwielichtig aussehende Gestalten, die Pfeife rauchen und Karten spielen. Sie drehen sich um und schauen mich an. Ich kann gerade noch einen Blick auf das Sofa und die Sessel, die eine stumpfe, braungelbe Farbe haben, sowie den ausgefransten Teppich werfen, ehe Henry mit einer knappen Entschuldigung an die Anwesenden die Tür wieder schließt.
»Wer war das?«, frage ich.
»Nur ein paar Leute, die für uns arbeiten.«
»Was für Arbeit?«
»Polizeiagenten. Informanten. Männer mit nützlichen Kenntnissen. Oberst Sandherr vertritt die Ansicht, es sei bes ser, sie von der Straße fernzuhalten, damit sie keinen Unsinn machen.«
Wir gehen eine knarzende Treppe hinauf, die uns in den ersten Stock ins laut Henry sogenannte Allerheiligste führt. Da alle Türen geschlossen sind, fällt kaum natürliches Licht in den Gang. Ich sehe, wo die elektrischen Leitungen verlaufen, da man sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, sie zu verputzen. Eine Gipsplatte, die von der Decke auf den Boden gefallen ist, hat man einfach an die Wand gestellt.
Henry stellt mir nacheinander jeden Mitarbeiter der Ein heit vor. Alle haben ein eigenes Büro und arbeiten hinter verschlossenen Türen. Der Alkoholiker Major Cordier, der bald in Rente geht, sitzt in Hemdsärmeln an seinem Schreib tisch und liest antisemitische Zeitungen, La Libre Parole und L’Intransient. Ich frage nicht, ob privat oder beruflich. Dann ist da der
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