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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Neue, Hauptmann Junck, den ich oberflächlich aus meinen Vorlesungen an der École Supérieure de Guerre kenne – ein großer, muskulöser junger Mann mit einem gewaltigen Schnauzbart, der jetzt eine Schürze und dünne Handschuhe trägt. Er öffnet über einem von einem Gas brenner erhitzten Wasserkessel einen Stapel abgefangener Briefe. Der Wasserdampf löst den Klebstoff auf dem Umschlag. Das, so Henry, sei die nasse Methode.
    Im Raum daneben wendet ein anderer Hauptmann, Val dant, die trockene Methode an, bei der man die Gummierung mit einem Skalpell aufkratzt. Ich schaue ein paar Minuten zu. Valdant kratzt die Umschlaglasche an jeder Seite ein kleines Stück auf, schiebt eine lange, schmale Zange in die Öffnung, rollt den Brief zu einem Zylinder zusammen und zieht ihn dann geschickt durch das Loch heraus, ohne eine Spur zu hinterlassen. Einen Stock höher sitzt der spinnenhafte Archivar Gribelin, der bei Dreyfus’ Degradierung das Opernglas dabeihatte, in der Mitte eines großen Raums vol ler verschlossener Aktenschränke. Als ich hereinkomme, ver steckt er das, was er gerade liest, wie zwangsläufig unter einer Zeitung. Hauptmann Mattons Büro ist leer. Er habe gekündigt, sagt Henry, die Arbeit sei nicht nach seinem Geschmack. Schließlich werde ich noch Hauptmann Lauth vorgestellt, an den ich mich auch noch von der Degradierungszeremonie erinnere: noch ein attraktiver, blonder Kavallerist aus dem Elsass, in den Dreißigern, der deutsch spricht und jetzt eigentlich auf dem Rücken eines Pferdes durch die Landschaft preschen sollte. Stattdessen ist er hier, trägt wie die anderen eine Schürze und beugt sich über einen kleinen, von einem grellen Lichtstrahl beleuchteten Haufen zerrissener Notizzettel, deren Schnipsel er mit einer Pinzette hin und her schiebt. Ich schaue fragend zu Henry. »Darüber sollten wir gleich noch reden«, sagt er.
    Wir gehen wieder nach unten in den ersten Stock. »Das ist mein Büro«, sagt er und zeigt auf eine Tür, öffnet sie aber nicht. »Und das ist Oberst Sandherrs Büro.« Sein Gesicht ist plötzlich von Schmerz erfüllt. »Oder besser: war es. Schätze, das ist jetzt Ihr Büro.«
    »Tja, irgendwo muss ich ja arbeiten.«
    Wir gehen durch einen kleinen Vorraum mit zwei Stühlen und einem Hutständer. Das Büro dahinter ist überraschend klein und dunkel. Die Vorhänge sind zugezogen. Ich mache das Licht an. Rechts von mir steht ein großer Tisch, zu meiner Linken ein großer, stählerner Aktenschrank mit einem klobigen Schloss. Gegenüber steht ein Schreibtisch, daneben führt eine zweite Tür hinaus auf den Gang, dahinter ist ein hohes Fenster. Ich gehe zum Fenster, ziehe die staubigen Vorhänge auf und blicke überrascht auf einen großen, geometrisch angelegten Garten. Topografie ist mein Spezialgebiet – das Bewusstsein dafür, in welchem Verhältnis Dinge zueinander stehen, das präzise Gespür für Straßen, Entfernungen, Gelände. Trotzdem dauert es einen Moment, bis ich begreife, dass ich die Rückansicht des Hôtel de Brienne vor mir habe, den Garten des Ministers. Es ist ein seltsames Gefühl, ihn von dieser Seite zu sehen.
    »Mein Gott«, sage ich. »Mit einem Fernrohr könnte ich praktisch ins Büro des Ministers schauen.«
    »Soll ich Ihnen eines besorgen?«
    »Nein.« Ich schaue Henry an. War das ein Scherz? Ich wende mich wieder zu dem Fenster um und versuche es zu öffnen. Ich schlage ein paarmal mit dem Handballen gegen den Griff, aber der ist eingerostet. Schon jetzt beginne ich dieses Büro zu hassen. »Also gut«, sage ich und wische mir die Rostflecken von der Hand. »Ich werde sicherlich oft auf Ihre Hilfe angewiesen sein, Herr Major, jedenfalls in den ersten paar Monaten. Das ist alles sehr neu für mich.«
    »Gewiss, Herr Oberstleutnant. Darf ich Ihnen als Erstes die Schlüssel geben.« Er hält mir fünf Schlüssel hin. Sie hängen an einem Eisenring mit einer leichten Kette, die ich an meinen Gürtel klemmen kann. »Der ist für den Haupteingang. Der ist für Ihr Büro. Der für Ihren Tresor und der für Ihren Schreibtisch.«
    »Und der?«
    »Mit dem kommen Sie in den Garten vom Hôtel de Brienne. Den brauchen Sie, wenn Sie den Minister sprechen möchten. Oberst Sandherr hat den Schlüssel von General Mercier erhalten.«
    »Warum nicht durch den Haupteingang?«
    »So geht es schneller. Und diskreter.«
    »Haben wir einen Telefonapparat?«
    »Ja, draußen in Hauptmann Valdants Zimmer.«
    »Habe ich eine Sekretärin?«
    »Oberst Sandherr misstraute

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