Intrige (German Edition)
Kopfhöhe ein vergittertes Fenster, der Boden ist gefliest, an den weiß gestrichenen Wän den stehen harte Holzstühle. Der Kohleofen in der Ecke kann die kalte Luft kaum erwärmen. Darüber hängt ein Bild von Jesus Christus mit einem zur Segnung erhobenen leuchtenden Zeigefinger.
Ein paar Minuten später steckt Lauth seinen blonden Haarschopf durch die Tür. An den Schulterstücken der Uniform erkenne ich, dass er zum Major befördert worden ist. Ein Blick auf mich, dann zieht er sich gleich wieder zurück. Fünf Minuten später kommt er mit Gribelin zurück. Sie verziehen sich in die am weitesten von mir entfernte Ecke. Sie schauen nicht ein einziges Mal in meine Richtung. Warum sind sie hier, frage ich mich. Dann tauchen noch zwei meiner ehemaligen Offiziere auf. Auch sie gehen schnell an mir vorbei in die Kuschelecke. Du Paty betritt den Raum in einer Haltung, als erwartete er zu seinem Einzug einen Tusch, wohingegen der unausweichlich rauchende Gonse fast verstohlen hereinkommt. Alle zeigen mir die kalte Schulter, nur der polterige Henry, der die Tür hinter sich zuknallt, nickt mir im Vorbeigehen zu.
»Sie haben ja richtig Farbe bekommen, Herr Oberstleutnant«, sagt er vergnügt. »Kommt wohl von der afrikanischen Sonne.«
»Und Ihre wohl vom Kognak.«
Er lacht lauthals und setzt sich dann in die Ecke zu den anderen.
Nach und nach trudeln die Zeugen ein. Mein alter Freund Major Curé vom 74 . Infanterieregiment weicht sorgsam meinem Blick aus. Ich erkenne den Vizepräsidenten des Senats, Auguste Scheurer-Kestner, der mir die Hand schüttelt und leise sagt: »Gut gemacht, Herr Oberstleutnant.« Mathieu betritt den Raum mit einer jungen, schlanken und dunkelhaarigen Frau am Arm, die wie eine Witwe ganz in Schwarz geklei det ist. Sie sieht so jung aus, dass ich sie für seine Tochter halte, bis er sie vorstellt. »Das ist Madame Lucie Dreyfus, Alfreds Frau. Lucie, das ist Oberstleutnant Picquart.« Sie lächelt mich anerkennend an, aber wir sagen beide kein Wort. Mir fallen ihre intimen, leidenschaftlichen Briefe ein, und sofort fühle ich mich unwohl. Ich flehe Dich an, lebe für mich. Durch sein Monokel mustert du Paty sie aufmerksam und flüstert Lauth etwas zu. Ich muss an das Gerücht denken, dass er ihr nach Dreyfus’ Verhaftung bei der Durchsuchung ihrer Wohnung Avancen gemacht hat. Jetzt glaube ich es.
Und so sitzen wir da, die Militärs auf der einen und ich mit den Zivilisten auf der anderen Seite, und lauschen den Geräuschen im Stockwerk über uns: den dumpfen Schritten auf der Treppe, dem Befehl »Präsentiert das Gewehr!« beim Eintreffen der Richter und dann einer langen Stille, während der wir auf Neuigkeiten warten. Schließlich erscheint der Ge richtsdiener und verkündet, dass die von der Familie Dreyfus eingereichten Zivilklagen abgewiesen seien und folglich das erste Kriegsgerichtsurteil gegen Dreyfus nicht überprüft werde und es Bestand habe. Außerdem haben die Richter mehrheitlich entschieden, dass alle Aussagen von Armeeangehörigen nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen werden. Wir haben also die Schlacht verloren, noch bevor sie überhaupt begonnen hat. Mit routiniertem Gleichmut, ohne eine Regung zu zeigen, steht Lucie auf, umarmt Mathieu und verlässt den Raum.
Es vergeht eine weitere Stunde, während der vermutlich Esterházy befragt wird, dann kommt wieder der Gerichtsdiener und ruft Mathieu Dreyfus auf. Als derjenige, der die Klage gegen Esterházy beim Kriegsminister eingereicht hat, hat er das Vorrecht, als Erster gehört zu werden. Er kehrt nicht zurück. Fünfundvierzig Minuten später wird Scheurer-Kestner aufgerufen. Auch er kehrt nicht zurück. So verlassen nach und nach mehrere Handschriftenexperten und Offiziere den Raum, bis schließlich am fortgeschrittenen Nachmittag Gonse und die Männer der Statistik-Abteilung en bloc aufgerufen werden. Alle vermeiden den Augenkontakt mit mir, nur Gonse bleibt in letzter Sekunde auf der Türschwelle stehen, dreht sich um und sieht mich an. Sein Gesichtsausdruck sagt mir nichts. Ist er verblüfft, empfindet er Hass, Mitleid, Bedauern? Oder alles zusammen? Oder will er sich ein letztes Mal mein Gesicht einprägen, bevor ich für immer verschwinde? Er starrt mich einige Sekunden lang an, dann dreht er sich auf dem Absatz um, die Tür fällt ins Schloss, und ich bleibe allein zurück.
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Ich warte mehrere Stunden. Um mich warm zu halten, stehe ich gelegentlich auf und vertrete mir die Beine. Mehr denn je
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