Intrige (German Edition)
wünsche ich mir, dass Louis jetzt da wäre. Wenn ich jemals daran gezweifelt habe, jetzt bin ich mir sicher: Hier findet kein Prozess gegen Esterházy statt, sondern gegen mich.
Als der Gerichtsdiener mich holt, ist es schon dunkel. Außer den Anwälten befinden sich im Gerichtssaal keine Zivilisten, keine Außenstehenden mehr. Im Gegensatz zum eiskalten Zeugenraum herrscht in dem mit Männern überfüllten Saal eine warme, fast gesellige Atmosphäre. Tabakrauch hängt in der stickigen Luft. Gonse, Henry, Lauth und die anderen Offiziere aus der Statistik-Abteilung beobachten mich, während ich zur Richterbank gehe. Hinter dem Vorsitzenden des Gerichts, General Luxer, sitzt ausgerechnet Pellieux. Links von mir sehe ich Esterházy, der mehr oder weniger genauso auf seinem Stuhl lümmelt, wie er mir vom einzigen Mal, dass ich ihn gesehen habe, in Erinnerung ist: die Beine ausgestreckt, die Arme an den Seiten herunterhängend, so entspannt, als wäre er immer noch in jenem Nachtklub in Rouen. Mir bleibt nur Zeit für einen kurzen Seitenblick, aber wieder bin ich beeindruckt von seiner eigen tümlichen Erscheinung. Der kahle, seltsam zierliche runde Kopf schraubt sich in die Höhe, um sich mir zuzuwenden. Ein blitzendes Auge, wie das eines Falken, nimmt mich eine Sekunde lang ins Visier und wendet sich dann zuckend wieder ab. Er scheint sich zu langweilen.
»Ihr Name?«, sagt Luxer.
»Marie-Georges Picquart.«
»Geburtsort?«
»Straßburg.«
»Alter?«
»Dreiundvierzig.«
»Wann sind Sie zum ersten Mal auf den Angeklagten aufmerksam geworden?«
»Etwa neun Monate nachdem ich zum Chef der Geheimdienstabteilung im Generalstab ernannt wurde …«
Insgesamt sage ich etwa vier Stunden lang aus – eine Stunde am dunklen Spätnachmittag jenes Januartages und drei Stunden am nächsten Morgen. Es ist sinnlos, alles zu wiederholen, es ist nur eine Neuauflage meiner Anhörung vor Pellieux’ Untersuchungskommission. Tatsächlich scheint es Pellieux selbst zu sein, der – unter Missachtung jeglicher Verfahrensregeln – den Prozess steuert. Er beugt sich vor und gibt dem Vorsitzenden flüsternd Hinweise. Er stellt mir einschüchternde Fragen. Und wenn ich die Namen von Mercier, Boisdeffre und Billot erwähne, unterbricht er mich und verbietet mir scharf den Mund mit dem Einwand, diese hochdekorierten Offiziere hätten für den Fall von Major Esterházy nicht die geringste Bedeutung. Seine Methoden sind so plump, dass nach der Hälfte der Sitzung am Dienstagmorgen einer der Richter den Vorsitzenden zum Einschreiten auffordert. »Mir scheint, dass hier Oberstleutnant Picquart zum Angeklagten gemacht wird. Ich bitte darum, dass ihm gestattet wird, die für seine Verteidigung nötigen Erklärungen abzugeben.«
Pellieux setzt ein mürrisches Gesicht auf und verstummt für kurze Zeit, aber Esterházys junger Anwalt, Maurice Tézenas, springt sofort für ihn ein und setzt die Attacke fort. »Oberstleutnant Picquart, Sie haben von Beginn an danach getrachtet, anstelle von Dreyfus meinen Mandanten zu beschuldigen.«
»Das ist nicht wahr.«
»Sie haben das Petit Bleu gefälscht.«
»Nein.«
»Sie haben sich mit Ihrem Anwalt Maître Leblois verschworen, um den Namen meines Mandanten in den Dreck zu ziehen.«
»Nein.«
»Sie haben ihm das Geheimdossier gezeigt, das bei der Verurteilung von Dreyfus eine Rolle gespielt hat. Das war Teil eines Komplotts, um das öffentliche Vertrauen in das ursprüngliche Urteil zu untergraben.«
»Ich habe ihm das Dossier nicht gezeigt.«
»Kommen Sie, Herr Oberstleutnant, gestern vor diesem Gericht haben mehrere Zeugen genau das ausgesagt!«
»Das ist unmöglich. Wer sind diese Zeugen?«
»Oberstleutnant Henry, Major Lauth und Monsieur Gribelin.«
Ungerührt schaue ich die drei an. »Dann haben sie sich geirrt.«
»Ich beantrage, die Offiziere aufzurufen, damit sie ihre Aussage wiederholen«, sagt Tézenas.
»Meine Herren, bitte.« Luxer winkt sie mit dem Finger zur Richterbank. Aus Esterházys Gesichtsausdruck spricht völliges Desinteresse, als wohnte er einem ausgesprochen zähen Schauspiel bei, dessen Ausgang er schon kennt. Der Vorsitzende wendet sich an Henry. »Oberstleutnant Henry, sind Sie sich jenseits jeden Zweifels sicher, dass Sie gesehen haben, wie Oberstleutnant Picquart Maître Leblois das sogenannte Geheimdossier gezeigt hat?«
»Ja, Herr General. An einem Nachmittag habe ich ihn noch spät wegen einer internen Sache in seinem Büro aufgesucht, und da habe ich das
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