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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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ist … Er verlässt das Gericht als ein Mann mit unbefleckter Ehre …«
    Der Rest seiner Worte geht im stürmischen Beifall unter, der donnernd von den Steinwänden widerhallt. Meine Offizierskameraden trampeln mit den Füßen. Sie klatschen. Sie jubeln und rufen: »Es lebe die Armee! Es lebe Frankreich!« Und sogar: »Tod den Juden!« Der Ausgang war vorherbestimmt, warum bin ich dann so entsetzt darüber? Aber das Vermögen des Menschen, sich mithilfe seiner Vorstellungskraft auf eine Katastrophe vorzubereiten, ist beschränkt. Mathieu und ich verlassen unter Buhrufen und Beschimpfungen den Raum: »Nieder mit dem Syndikat! Nieder mit Picquart!« Ich komme mir vor, als wäre ich in einen Grubenschacht gestürzt, aus dem ich unmöglich wieder herausklettern kann. Alles versinkt in Dunkelheit – Dreyfus’ Lage ist jetzt sogar noch schlimmer als vor sechs Monaten, er ist jetzt doppelt verurteilt. Es ist unvorstellbar, dass die Armee noch eine dritte Anhörung durchführt.
    Auf der Straße vor dem Innenhof, der in trübes Gaslicht getaucht daliegt, haben sich trotz der Kälte mehr als tausend Menschen versammelt. Sie klatschen rhythmisch und skandieren den Namen ihres Helden. »Es-ter-házy! Es-ter-házy!« Ich will nur noch weg. Ich gehe auf das Tor zu, aber Louis und Mathieu halten mich zurück. »Du darfst jetzt nicht da raus, Georges«, sagt Louis. »Dein Foto war in allen Zeitungen. Die lynchen dich.«
    In diesem Augenblick verlässt Esterházy das Gerichtsgebäude – eskortiert von Tézenas, Henry und du Paty, gefolgt von einer applaudierenden Entourage aus Soldaten in schwarzer Uniform. Sein triumphal verklärtes Gesicht leuch tet fast. Er trägt einen Umhang, den er sich mit einer Geste imperialer Größe über die Schulter wirft, und tritt dann hinaus auf die Straße. Gewaltiger Jubel brandet auf. Hände recken sich ihm entgegen, um ihn zu berühren. Einer ruft: »Ehre dem Märtyrer der Juden!«
    Mathieu berührt mich am Arm. »Wir sollten jetzt lieber gehen.« Er zieht seinen Mantel aus und legt ihn mir über die verräterische Uniform. Mit gesenktem Kopf, links und rechts von Mathieu und Louis flankiert, betrete ich die Rue du Cherche-Midi. Wir drängeln uns in entgegengesetzter Richtung von Esterházy durch die Versammelten und gehen schnell über das nasse Pflaster auf die belebteren Straßen zu.
    •
    Am nächsten Tag ist die Bestattung von Louis’ Vater, Georges-Louis Leblois. Er war lutheranischer Priester, ein Verfechter des wissenschaftlichen Fortschritts und ein radikaler Denker, der die Göttlichkeit von Jesus Christus leugnete. Sein Wunsch war es, eingeäschert zu werden, und da es dafür in Straßburg keine Einrichtung gibt, muss die Zeremonie im neuen Krematorium Père-Lachaise in Paris statt finden. Die Stille des riesigen Friedhofs mit seinen schattigen Wegen und die zu seinen Füßen in der Ebene liegende graue Stadt, die sich bis zu den blauen Hügeln am Horizont erstreckt, machen einen tiefen Eindruck auf mich. Die Trauergäste kommen auf mich zu, schütteln mir die Hand und drücken mir mit gedämpfter Stimme ihr Mitgefühl wegen des gestrigen Urteils aus, sodass ich mir fast vorkomme, als wäre ich selbst der Verstorbene und wohnte meiner eigenen Trauerfeier bei.
    Wie ich später erfahre, unterzeichnet zu dieser Zeit General Billot meinen Haftbefehl. Als ich nach der Beerdigung in meine Wohnung zurückkomme, finde ich die Benachrichtigung vor, dass ich am nächsten Tag in Gewahrsam genommen werde.
    Sie kommen kurz vor Morgengrauen. Ich habe meine Zivilkleidung schon angelegt, der Koffer ist gepackt. Ein älterer Oberst in Begleitung eines Gefreiten klopft an meine Tür und zeigt mir eine Kopie des Haftbefehls von General Billot: »Wegen schwerwiegender Verletzung seiner beruflichen Pflichten sind Ermittlungen gegen Oberstleutnant Picquart durchgeführt worden. Er hat sich in seinem Dienst gravie render, gegen die Ordnung der Armee verstoßender Vergehen schuldig gemacht. Aufgrund dessen habe ich entschieden, dass er in der Festungsanlage Mont-Valérien unter Arrest gestellt wird, bis weitere Weisungen ergehen.«
    »Entschuldigen Sie die frühe Stunde«, sagt der Oberst. »Aber wir wollten möglichst diesen grässlichen Zeitungsleuten aus dem Weg gehen. Dürfte ich um Ihren Dienstrevolver bitten?«
    Als wir die Treppe hinuntergehen, begegnen wir dem Hausverwalter Reigneau, der ein paar Häuser weiter wohnt. Der Lärm auf der Straße hat ihn neugierig gemacht. Er wird später Le Figaro

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