Intrige (German Edition)
Glatzkopf mit einem struppigen Schnauzbart, den ich als Georges Clemenceau, den linksgerichteten Politiker und Herausgeber der radikalen Zeitung L’Aurore erkenne –, worauf auch alle anderen in den Applaus einfallen. Als Louis mich in den Raum führt, ruft ein eleganter, gut aussehender Mann aufgekratzt: »Bravo, Picquart! Es lebe Picquart!« Auch ihn erkenne ich jetzt, von den Überwachungsfotos, die so oft über meinen Schreibtisch gegangen sind. Es ist Mathieu Dreyfus. Während ich die Runde mache und jedem die Hand schüttele, stelle ich fest, dass ich auch den Rest vom Sehen oder Hörensagen kenne: den Verleger Georges Charpentier, in dessen Haus ich mich befinde; den vollbärtigen Senator für das Département Seine, Arthur Ranc, der Älteste in der Runde; Joseph Reinach, ein linksgerichteter Jude und Mitglied der Abgeordnetenkammer; und natürlich den rundlichen Mann mit dem Kneifer auf der Nase, dem ich als Letztem vorgestellt werde, Émile Zola.
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Im Speisezimmer wird ein exquisites Mittagsmahl serviert, aber vor lauter Reden komme ich kaum zum Essen. Ich sage den anderen Gästen, dass ich ihnen meine Sicht der Dinge darlegen und dann sofort wieder gehen werde, da jede Minute, die wir zusammen verbrächten, die Gefahr erhöhe, dass unser Treffen bekannt werde. »Monsieur Charpentier mag ja der Ansicht sein, dass seine Bediensteten über jeden Verdacht der Spitzelei für die Sûreté erhaben seien, aber bedauerlicher weise hat mich die Erfahrung anderes gelehrt.«
»Das kann ich nur bestätigen«, sagt Mathieu Dreyfus.
Ich verneige mich vor ihm. »Das tut mir leid für Sie.«
An der Wand mir gegenüber hängt ein großes Gemälde von Renoir, das Charpentiers Frau und Kinder zeigt. Während ich meine Geschichte erzähle, wandert mein Blick gelegentlich zu dem Bild und ruft in mir das seltsame Gefühl der Ausgeschlossenheit hervor, das einen manchmal befallen kann. Ich sage meinen Zuhörern, dass sie sich einen gewissen Oberst Armand du Paty de Clam genauer anschauen sollten, der der erste Offizier gewesen sei, der Dreyfus verhört habe, und dessen schmutzige Fantasie diese Affäre maßgeblich mitgestaltet habe. Ich schildere ihnen seine Verhörmethoden, die fast an Folter grenzten. Dann erzähle ich ihnen von meinem Vorgänger, Oberst Sandherr, einem kranken Mann, der fälschlicherweise davon überzeugt gewesen sei, der Spion komme aus dem Generalstab. Ich sage, das größte Missverständnis in der Öffentlichkeit sei, dass das Material, das man an die Deutschen weitergegeben habe, von entscheidender militärischer Bedeutung gewesen sei, obwohl es sich nur um Banalitäten gehandelt habe. Trotzdem sei man mit Dreyfus auf so extreme Weise umgesprungen – der Geheimprozess, die Degradierung, die Verbannung auf die Teufelsinsel –, dass die Welt irgendwie zu der Überzeugung gelangt sei, die Existenz Frankreichs stehe auf dem Spiel. »Die Leute glauben, da muss mehr dahinterstecken, obwohl in Wahrheit viel weni ger dahintersteckt. Und je länger der Skandal andauert, desto kolossaler und absurder wird die Diskrepanz zwischen dem Ausmaß des ursprünglichen Verbrechens und den gewaltigen Anstrengungen zur Vertuschung des Justizirrtums.«
Ich sehe, dass der am Ende des Tischs sitzende Zola sich Notizen macht. Ich mache eine Pause und trinke einen Schluck Wein. Eines der Kinder in dem Renoir-Gemälde sitzt auf einem großen Hund. Das Muster des Fells wiederholt sich in den Farben des Kleids von Madame Charpentier, das heißt, die scheinbar natürliche Konstellation ist in Wahrheit kunstvoll arrangiert.
Ich fahre fort. Ohne geheime Informationen preiszu geben, erzähle ich den Anwesenden, wie ich vor über zwanzig Mo naten den wahren Verräter, Esterházy, enttarnt hätte und dass Boisdeffre und vor allem Billot meine Nachforschungen zunächst unterstützt, dann aber plötzlich ihre Meinung radikal geändert hätten, als ihnen klar ge worden sei, dass das auf eine Wiederaufnahme des Dreyfus-Falles hinauslaufen würde. Ich berichte von meinem Exil in Tunesien, dem Versuch des Generalstabs, mich auf ein Himmelfahrtskommando zu schicken, und davon, wie man General Pellieux’ Untersuchung mit Fälschungen und Falschaussagen gefüttert habe, um mich genauso hereinzulegen wie Dreyfus. »Wir befinden uns jetzt in der grotesken Lage, meine Herren, dass die Armee so fest entschlossen ist, einen Unschuldigen in Haft zu halten, dass sie den Schuldigen dabei unterstützt, seiner Bestrafung zu entgehen, und dass sie
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