Intrige (German Edition)
von Metz gemeldet … – und schließe ihn wieder. Wie ich Spionagearbeit verabscheue. Ich hätte den Posten nie annehmen sollen. Es erscheint mir völlig ausgeschlossen, dass ich mich hier jemals heimisch fühlen werde.
Unter den Briefen liegt eine dünne Aktenmappe, in der eine große Fotografie steckt, fünfundzwanzig mal zwanzig Zentimeter. Ich erkenne sie sofort aus Dreyfus’ Verhandlung vor dem Kriegsgericht wieder – es ist eine Kopie des Begleit schreibens, des berühmten Bordereaus, der den Dokumenten beigelegt war , die er an die Deutschen weitergegeben hat. Es war das wesentliche Beweisstück, das vor Gericht gegen ihn vorgebracht wurde. Bis zu diesem Morgen hatte ich keine Ahnung, wie es in den Besitz der Statistik-Abteilung gelangt war. Kein Wunder. Ich muss Lauths handwerklichem Geschick Respekt zollen. Keiner würde je auf den Gedanken kommen, dass es einmal in kleine Schnipsel zerrissen war: Sie sind so sorgfältig zusammengefügt, dass es wie ein vollständiges Schriftstück aussieht.
Ich setze mich an den Schreibtisch und schließe ihn auf. Obwohl sich seine Krankheit nur langsam verschlimmerte, scheint Sandherr seinen Arbeitsplatz fluchtartig verlassen zu haben. Ein bisschen Krimskrams ist noch da, der hin und her rollt, als ich die Schublade herausziehe. Kreidestücke. Ein Klumpen Siegelwachs. Einige ausländische Münzen. Vier Patronen. Und verschiedene Dosen und Flaschen mit Medizin: Quecksilber, Guajak-Extrakt, Kaliumjodid.
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General Boisdeffre spendiert mir zur Feier meiner Ernen nung ein Essen im Jockey Club, was ich sehr anständig finde. Alle Fenster und Türen sind geschlossen, auf allen Tischen stehen Schalen mit Freesien und Gartenwicken. Aber nichts kann den süßlich sauren Geruch nach menschlichen Exkrementen ganz vertreiben. Boisdeffre bestellt einen guten weißen Burgunder und trinkt auch das meiste davon. Seine hohen Wangen nehmen nach und nach die Farbe von wildem Wein im Herbst an. Ich trinke nur sparsam und habe wie ein guter Stabsoffizier mein winziges Notizbuch aufgeklappt neben dem Teller liegen.
Der Präsident des Clubs, Sosthènes de La Rochefoucauld, Herzog von Doudeauville, sitzt am Nebentisch. Er kommt herüber, um den General zu begrüßen. Boisdeffre stellt mich vor. Die Nase und die Wangenknochen des Herzogs sehen so zart modelliert und zerbrechlich aus wie ein Sahnebaiser. Sein Händedruck fühlt sich an, als striche papierne Haut über meine Finger.
Zu eingelegter Forelle spricht der General über den neuen Zaren, Nikolaus II . Boisdeffre will unbedingt alle Infor mationen über jede russische Anarchistenzelle, die in Paris aktiv sein könnte. »Hören Sie sich um. Alles, was wir nach Moskau weitergeben können, wird uns bei Verhandlungen von Nutzen sein.« Er isst einen Happen Fisch und fährt dann fort. »Ein Bündnis mit Russland würde unsere Unterlegenheit gegenüber den Deutschen augenblicklich beenden. Ein der artiger diplomatischer Streich wäre so wertvoll wie hun derttausend Mann, mindestens. Deshalb widme ich die Hälfte meiner Zeit der Außenpolitik. Auf der höchsten Ebene gibt es keine Unterscheidung mehr zwischen dem Militärischen und dem Politischen. Trotzdem dürfen wir nie vergessen, dass die Armee sich aus der reinen Parteipolitik herauszuhalten hat.«
Das bringt ihn auf Mercier, der inzwischen kein Kriegsminister mehr ist, sondern seine letzten Jahre bis zum Ruhestand als Befehlshaber des 4 . Armeekorps in Le Mans ausklingen lässt. »Er lag richtig mit seiner Prognose, dass der Präsident gestürzt werden könnte, aber er lag falsch mit seiner Annahme, dass er ihn vielleicht beerben könnte.«
Ich bin so überrascht, dass ich aufhöre zu essen. Die Gabel verharrt regungslos auf dem Weg zum Mund. »General Mercier hat geglaubt, dass er Präsident werden könnte?«
»In der Tat hat er sich dieser Illusion hingegeben. Das ist eines der Probleme in einer Republik. In einer Monarchie bildet sich zumindest niemand ernsthaft ein, dass er König werden kann. Als sich nach Casimir-Periers Rücktritt im Januar der Senat und die Abgeordnetenkammer in Versailles zur Wahl seines Nachfolgers versammelten, hatten General Merciers Freunde – zugegeben, eine heikle Bezeichnung – schon Handzettel verteilt, in denen dazu aufgerufen wurde, den Mann zu wählen, der gerade den Verräter Dreyfus vors Kriegsgericht gebracht hatte. Er erhielt genau drei von achthundert Stimmen.«
»Das wusste ich nicht.«
»Tja, ich glaube, so etwas nennt mal wohl
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