Intrige (German Edition)
einen Rohrkrepierer.« Boisdeffre lächelt. »Aber jetzt werden sich die Politiker natürlich immer an ihn erinnern.« Er tupft sich mit seiner Serviette den Schnauzbart ab. »Sie werden in Zukunft wohl etwas mehr politisch denken müssen, Herr Oberstleutnant, wenn Sie die großen Hoffnungen erfüllen wollen, die wir alle in Sie setzen.« Ich neige den Kopf leicht nach vorn, als würde mir der Stabschef einen Orden um den Hals hängen. »Nun, was halten Sie von dieser Dreyfus-Geschichte?«, fragt er mich anschließend.
»Unangenehm«, sage ich. »Armselig. Störend. Ich bin froh, dass sie vorbei ist.«
»Ach, glauben Sie das wirklich? Ich betrachte die Angelegenheit eher politisch als militärisch. Die Juden sind eine höchst hartnäckige Rasse. Für sie ist dieser Dreyfus auf seinem Felsen im Ozean wie ein eitriger Zahn. Eine Heimsuchung. Sie werden keine Ruhe geben.«
»Er ist ein Symbol ihrer Schande. Aber was können sie schon tun?«
»Ich weiß nicht. Aber irgendetwas werden sie tun, das ist sicher.« Boisdeffre lauscht den Geräuschen des Verkehrs auf der Rue Rabelais und verstummt für ein paar Sekunden. Sein Profil ist von herausragender Erhabenheit, in Fleisch modelliert durch jahrhundertelange Ahnenfolge. Es erinnert mich an die kniende Statue eines leidgeprüften normannischen Ritters in einer Kapelle in Bayeux. »Was Dreyfus zu diesem jungen Hauptmann gesagt hat, dass er kein Motiv für Landesverrat hätte – ich glaube, wir sollten darauf eine Antwort parat haben. Ich möchte, dass Sie sich weiter um den Fall kümmern. Schauen Sie sich die Familie an – füttern Sie die Akten, wie Ihr Vorgänger immer zu sagen pflegte. Vielleicht graben Sie ja noch ein paar Hinweise über seine Motive aus, damit wir noch etwas in der Hinterhand haben, nur für den Fall.«
»Selbstverständlich, Herr General.« Ich schreibe es in mein Notizbuch: »Dreyfus: Motiv?«, gleich unter »russische Anarchisten«.
Die Rillettes de Canard kommen, und die Unterhaltung wendet sich der Flottenparade der Deutschen zu, die gerade in Kiel stattfindet.
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Am Nachmittag nehme ich in meinem neuen Büro die Agentenbriefe aus dem Tresor, stecke sie in meine Aktentasche und mache mich auf den Weg, um Oberst Sandherr einen Besuch abzustatten. Seine Adresse, die mir Gribelin gegeben hat, ist nur zehn Minuten zu Fuß entfernt, auf der anderen Seite des Flusses in der Rue Léonce Reynaud. Seine Frau macht mir auf. Als ich ihr sage, dass ich der Nachfolger ihres Mannes sei, zuckt ihr Kopf zurück wie der einer Schlange, die in der nächsten Sekunde zustößt. »Sie haben doch jetzt seinen Posten, Monsieur, was wollen Sie denn noch?«
»Wenn ich ungelegen komme, Madame, kann ich auch ein andermal wiederkommen.«
»Ach, wirklich? Wie freundlich von Ihnen! Warum sollte ihm daran gelegen sein, überhaupt mit Ihnen zu sprechen?«
»Ist schon gut, meine Liebe.« Sandherrs müde Stimme, irgendwo aus dem Hintergrund. »Picquart ist Elsässer. Bitte ihn herein.«
»Du bist einfach zu gutmütig für diese Leute«, brummt sie verbittert und schaut mich weiter an, obwohl sie mit ihrem Mann spricht. Trotzdem tritt sie zur Seite und lässt mich herein.
»Ich bin im Schlafzimmer, Picquart, kommen Sie durch«, ruft Sandherr. Ich gehe in die Richtung seiner Stimme und betrete einen abgedunkelten Raum, in dem es nach Desinfektionsmitteln riecht. Er trägt ein Nachthemd und sitzt mit Kissen im Rücken auf seinem Bett. Er macht eine Lampe an. Als er sich zu mir umdreht, sehe ich, dass sein unrasiertes Gesicht mit Wunden übersät ist, einige noch roh und nässend, andere vernarbt und trocken. Ich hatte gehört, dass sein Zustand sich rapide verschlechtert habe, hätte aber nie gedacht, dass es schon so schlimm ist. »Bleiben Sie lieber da stehen«, warnt er mich.
»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Oberst«, sage ich und versuche mir meinen Ekel nicht anmerken zu lassen. »Aber ich brauche dringend Ihre Hilfe.« Ich hebe die Aktentasche hoch.
»Habe ich mir schon gedacht.« Er deutet mit einem zitternden Finger auf die Aktentasche. »Also, zeigen Sie mal her.«
Ich nehme die Briefe heraus und gehe zu seinem Bett. »Ich nehme an, die stammen von Agenten.« Ich lege sie in Reichweite seiner Hände auf die Bettdecke und trete wieder zurück. »Aber ich weiß nicht, wer sie sind oder wem ich trauen kann.«
»Mein Leitspruch ist: Vertraue niemand, dann wirst du auch von niemand enttäuscht.« Er dreht sich zur Seite, um seine Brille vom Nachttisch zu
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