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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Lemercier-Picards Tod sorgt zwar für einen Riesenwirbel, wird aber offiziell als Selbstmord abgehakt. Der Fall ist abgeschlossen.
    Überall herrschen die Mächte der Finsternis.
    Aber ich werde nicht von allen geächtet. Die Pariser Gesellschaft ist gespalten. Für jede Tür, die mir vor der Nase zugeschlagen wird, öffnet sich eine andere. Sonntags zum Mittagessen bin ich regelmäßig zu Gast in der Rue de Miromesnil bei Madame Geneviève Straus, der Witwe von Georges Bizet, wo ich auch Mitstreiter wie Zola, Clemen ceau, Labori, Proust und Anatole France treffe. In der Avenue Hoche veranstaltet am Mittwochabend Monsieur France’ Geliebte, Madame Léontine Arman de Caillavet, die »Notre- Dame de la Révision«, oft Diners für zwanzig Personen. Léontine ist eine extravagante Grande Dame mit karmesinrot ge schminkten Wangen und orange gefärbten Haaren, auf denen ein randloser Hut mit ausgestopften, rosaroten Dompfaffen thront. Und an Donnerstagen wandere ich bisweilen einige Straßen weiter westlich in die Nähe der Porte Dauphine zu den musikalischen Soireen von Madame Aline Ménard-Dorian, in deren mit Pfauenfedern und japanischen Drucken geschmückten scharlachroten Salons ich die Noten blätter für Cortot, Casals und die drei hinreißenden jungen Schwestern vom Trio Chaigneau umblättere.
    »Sie sind immer so gut aufgelegt, mein lieber Georges«, sagen diese grandiosen Gastgeberinnen zu mir, wedeln im Kerzenschein mit ihren Fächern, klappern mit den Augenlidern, berühren tröstend meinen Arm – ein Knastbruder ist immer eine Trophäe für eine elegante Tischgesellschaft – und weisen ihre anderen Gäste ständig auf meinen heiteren Gleichmut hin. »Sie sind ein Wunder, Picquart!«, rufen ihre Gatten. »Oder Sie sind verrückt. Ich bin mir sicher, angesichts von so viel Ungemach könnte ich mir meine gute Laune nicht bewahren.«
    Ich lächele. »Nun, für die Gesellschaft muss man immer die Maske des Komödianten tragen …«
    Aber in Wahrheit trage ich gar keine Maske. Ich blicke ziemlich zuversichtlich in die Zukunft. Ich bin mir völlig sicher, dass früher oder später – wodurch, kann ich allerdings auch nicht sagen – dieses gewaltige Bauwerk, das die Armee errichtet hat, dieses verrottende Verteidigungsbollwerk aus wurmstichigem Holz, zusammenbrechen wird. Die Lügen sind zu weitreichend und fadenscheinig, als dass sie dem Druck der Überprüfung und der Zeit standhalten könnten. Der arme Dreyfus, der nun schon im vierten Jahr auf der Teufelsinsel leidet, wird das vielleicht nicht mehr erleben, und ich vielleicht auch nicht. Aber die Rehabilitierung wird kommen, davon bin ich überzeugt.
    •
    Und ich soll recht behalten, sogar früher, als ich erwartet habe. Im folgenden Sommer ändern zwei Ereignisse alles.
    Als Erstes erreicht mich im Mai eine Nachricht von Labori, in der er mich auffordert, umgehend in seine Wohnung in der Rue de Bourgogne zu kommen, die sich gleich um die Ecke vom Kriegsministerium befindet. Keine Stunde später stehe ich in Laboris Salon einem nervösen jungen Mann von einundzwanzig Jahren gegenüber, der offensichtlich vom Land kommt. Labori stellt ihn mir als Christian Esterházy vor.
    Ich schüttele ihm misstrauisch die Hand. »Na, wenn das kein anrüchiger Name ist«, sage ich.
    »Dazu hat ihn mein Großcousin gemacht«, sagt er. »Der bösartigste Halunke, den die Welt je gesehen hat.«
    Seine Heftigkeit verblüfft mich. »Setzen Sie sich, Picquart, und hören Sie sich an, was Monsieur Esterházy uns zu erzählen hat. Sie werden nicht enttäuscht sein.«
    Marguerite bringt Tee und lässt uns dann allein.
    »Vor achtzehn Monaten ist völlig überraschend mein Vater gestorben«, erzählt Christian. »In unserem Haus in Bordeaux. Eine Woche nach seinem Tod habe ich ein Kondolenzschreiben von einem Mann erhalten, den ich nie zuvor gesehen habe, einem Cousin meines Vaters, Major Walsin-Esterházy, der sein Mitgefühl ausdrückte und anfragte, ob er uns bei etwaigen finanziellen Angelegenheiten behilflich sein könne.«
    Christian bemerkt den Blick, den ich Labori zuwerfe.
    »Ich sehe schon, Monsieur Picquart, dass Sie wissen, was jetzt kommt. Aber berücksichtigen Sie bitte, dass ich keine Erfahrung in solchen Dingen habe und meine Mutter die weltfremdeste und religiöseste Frau ist, die Sie sich vorstellen können – zwei meiner Schwestern sind Nonnen. Um die Sache kurz zu machen, ich habe meinem ritterlichen Verwandten geschrieben, dass ich fünftausend Francs erben und

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