Intrige (German Edition)
Freunde, eine Sensation! Dieser kleine arrogante Heuchler Cavaignac hat gerade in der Abgeordnetenkam mer seine erste Rede als Kriegsminister gehalten und behaup tet, ein für alle Mal bewiesen zu haben, dass Dreyfus ein Landesverräter ist.«
»Wie hat er das denn gemacht?«
Clemenceau drückt mir die Zeitung in die Hand. »Er hat drei abgefangene Botschaften aus dem Geheimdossier wortwörtlich vorgelesen.«
»Das ist völlig unmöglich …«
Das ist völlig unmöglich – aber da steht es, schwarz auf weiß. Der neue Kriegsminister Godefrey Cavaignac, der erst vor knapp einer Woche das Amt von Billot übernommen hat, behauptet, die Dreyfus-Affäre mit einem politischen Paukenschlag beendet zu haben: »Ich werde der Kammer drei Schriftstücke präsentieren. Das erste ist ein Brief, den die Geheimdienstabteilung des Kriegsministeriums im März 1 8 9 4 erhalten hat …« Ohne Absender und Empfänger zu nennen, geht er alle nacheinander durch: die berüchtigte Mitteilung aus dem Geheimdossier (»Anbei 1 2 Pläne von militärischen Einrichtungen in Nizza, die mir dieser Lump D für Dich gegeben hat«), einen zweiten Brief, den ich nicht kenne (»D hat mir sehr viele interessante Dinge übergeben«) und den sogenannten sicheren Beweis, der in Zolas Prozess den Ausschlag gegeben hat:
Ich habe gelesen, dass ein Abgeordneter Fragen zu Dreyfus stellen wird. Falls man in Rom neue Erklärungen von mir verlangt, werde ich sagen, dass ich nie mit diesem Juden Kontakt hatte. Wenn jemand Dich fragen sollte, dann sage das Gleiche. Niemand darf jemals erfahren, was man mit ihm gemacht hat.
Ich gebe Zola die Zeitung. »Er hat diesen ganzen Blödsinn tatsächlich vorgelesen? Er muss verrückt geworden sein.«
»Wenn Sie in der Abgeordnetenkammer gewesen wären, dann würden Sie das anders sehen«, sagt Clemenceau. »Die ganze Kammer hat ihm stehend applaudiert. Die glauben tatsächlich, dass er den Fall Dreyfus ein für alle Mal erledigt hat. Die Kammer hat sogar verfügt, dass sechsunddreißigtausend Kopien von den Beweisen gedruckt und in jeder Gemeinde in Frankreich ausgehängt werden.«
»Wenn wir dem nichts entgegensetzen können, ist das eine Katastrophe für uns«, sagt Labori.
»Und, haben wir dem etwas entgegenzusetzen?«, fragt Zola.
Alle drei schauen mich an.
•
Am gleichen Abend nach dem Konzert, bei dem auch die beiden großartigen Klaviersonaten von Wagner dargeboten werden, entschuldige ich mich bei Aline und mache mich, an statt zum Essen zu bleiben, auf den Weg zu Pauline. Die Musik spielt noch in meinem Kopf, während ich dahinschlen dere. Ich weiß, dass sie nicht weit weg bei einer Cousine untergekommen ist, einer alten Jungfer, die eine Wohnung in der Nähe des Bois de Boulogne hat. Erst weigert sich die Cousine, sie an die Tür zu holen. »Haben Sie ihr nicht schon genug Leid zugefügt, Monsieur? Sollten Sie sie nicht endlich in Ruhe lassen?«
»Bitte, Madame, ich muss sie sehen.«
»Es ist schon spät.«
»Es ist noch nicht einmal zehn, fast noch hell …«
»Gute Nacht, Monsieur.«
Sie schließt die Tür. Ich klingele noch einmal. Flüsternde Stimmen. Dann eine lange Pause. Als sich die Tür wieder öff net, steht Pauline vor mir. Sie trägt eine schlichte, weiße Bluse. Sie ist ungeschminkt , das Haar ist streng nach hinten ge kämmt. Sie sieht fast wie eine Nonne aus, und ich frage mich, ob sie noch zur Beichte geht. »Ich dachte, wir waren uns einig, dass wir uns erst wiedersehen, wenn alles geregelt ist«, sagt sie.
»Vielleicht reicht die Zeit nicht mehr.«
Sie schürzt die Lippen und nickt. »Ich hole meinen Hut.« Sie geht in ihr Zimmer, und ich sehe, dass auf dem Tisch in dem kleinen Wohnzimmer eine Schreibmaschine steht. Typisch. Praktisch wie sie ist, hat sie das Geld, das ich ihr geschickt habe, in eine Ausbildung investiert. Es ist das erste Mal, dass sie ein eigenes Einkommen hat.
Als wir auf der Straße um die erste Ecke biegen und außer Sichtweite der Wohnung sind, hakt sich Pauline bei mir unten. Wir gehen in den Bois de Boulogne. Es ist ein stiller, klarer Sommerabend und die Temperatur jenseits jedes Klimas von so vollkommener Ausgewogenheit, als gäbe es keine Grenze zwischen Geist und Natur. Da sind einfach nur die Sterne und der trockene Duft nach Gras und Bäumen und das gelegentliche gedämpfte Platschen, das vom See her überweht, wo im Mondschein ein Boot mit zwei Liebenden dahingleitet. In der regungslosen Luft tragen ihre Stimmen weiter, als ihnen bewusst ist.
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