Intrige (German Edition)
den Kopf. »Wir machen weiter.«
»Der Kerl ist ein gemeingefährlicher Irrer«, sagt Edmond leise zu mir, während Henry seinen Hemdsärmel aufkrempelt und sich das Blut abwischt. »So eine Vorstellung habe ich noch nie gesehen.«
»Wenn er das noch mal versucht, dann werde ich den Kampf beenden«, sagt Ranc.
»Nein«, sage ich. »Wir kämpfen das bis zum Schluss durch.«
Der Schiedsrichter fordert uns auf, an unsere Plätze zurückzukehren.
»Allez!«
Henry nimmt die Bindung mit der gleichen Aggressivität wieder auf und versucht mich erneut an die Wand zu drängen. Aber der untere Teil seines Arms ist voller Blut, er kann den blutverschmierten Griff des Säbels nicht mehr fest umfassen, und seine Schläge kommen nicht mehr mit der gleichen Wucht wie zuvor. Sie werden langsamer und schwä cher. Er muss mich schnell besiegen, oder er verliert. Er nimmt seine ganze Kraft für einen letzten Angriff auf mein Herz zusammen . Ich pariere den Schlag, wehre die Klinge zur Seite ab, stoße zu und erwische ihn am Ellbogen. Er heult vor Schmerz auf und lässt den Säbel fallen. Seine Sekundanten rufen: »Halt!«
»Nein!«, brüllt er und umklammert zitternd seinen Ellbogen. »Ich mache weiter!« Er bückt sich, hebt den Säbel mit der Linken wieder auf, drückt ihn in die rechte Handfläche, aber die blutigen Finger können den Griff nicht mehr umschließen. Er versucht es ein paarmal, doch immer wieder fällt der Säbel zu Boden. Ich beobachte ihn mitleidlos. »Es geht gleich wieder«, murmelt er und wendet mir den Rücken zu, um seine Schwäche zu verbergen.
Schließlich können die beiden Obersten und sein Arzt ihn überreden, zum Tisch zu gehen und die Wunde untersuchen zu lassen. Fünf Minuten später tritt Oberst Parès auf Edmond, Ranc und mich zu. »Der Ellbogennerv ist verletzt«, sagt er. »Die Finger werden mehrere Tage nicht mehr greifen können. Oberstleutnant Henry muss aufgeben.« Er salutiert und geht wieder.
Ich ziehe meine Weste und Jacke an und schaue zu Henry, der zusammengesunken auf einem Stuhl sitzt und auf den Boden starrt. Oberst Parès steht hinter ihm und schiebt den verletzten Arm in den Ärmel des Uniformrocks, dann kniet sich Oberst Boissonnet vor ihm auf den Boden und knöpft den Rock zu.
»Was für ein Bild«, sagt Ranc verächtlich. »Unser Riesen baby, am Boden zerstört.«
»Ja«, sage ich. »Sieht ganz so aus.«
•
Den üblichen Brauch, dass sich die Duellanten nach dem Kampf die Hand schütteln, lassen wir aus. Die Nachricht von der Verwundung ihres Helden ist inzwischen durchgesickert, sodass ich hastig durch einen Hintereingang aus der Halle geschleust werde, um der feindseligen Meute auf der Avenue de Lowendal zu entgehen. Laut den Titelseiten der Zeitungen am nächsten Tag verlässt Henry mit dem Arm in der Schlinge unter dem Jubel seiner Anhänger die Halle und wird in einem offenen Landauer zu seiner Wohnung gefahren, wo schon General Boisdeffre höchstpersönlich auf ihn wartet und ihm die besten Wünsche der Armee übermittelt. Ich gehe mit Ed mond und Ranc zum Mittagessen und stelle fest, dass der alte Senator recht hat. Ich setze mich mit dem herrlichsten Heißhunger an den Tisch und genieße tatsächlich die Mahlzeit meines Lebens.
Das beschwingte Lebensgefühl hält an, und in den nächsten drei Monaten stehe ich jeden Morgen in merkwürdig optimistischer Stimmung auf. Von außen betrachtet hätte meine Lage allerdings kaum schlimmer sein können. Ich habe nichts zu tun, keine berufliche Perspektive, kein ausreichendes Einkommen und nur ein kleines Vermögen, von dem ich zehren kann. Solange ihre Scheidung noch in der Schwebe ist, kann ich auch Pauline nicht sehen, weil ich nicht weiß, ob wir noch von der Presse oder der Polizei beobachtet werden. Blanche ist weggezogen. Nur dank den Beziehungen ihres Bruders und mit verschiedenen Tricks (unter anderem der Behauptung, sie sei eine herzleidende, fünfundfünfzig Jahre alte Jungfer) konnte sie um eine Vorladung als Zeugin im Zola-Prozess herumkommen. Ich werde auf der Straße angeraunzt und in verschiedenen Zeitungen verleumdet, weil Henry ihnen gesteckt hat, man hätte mich in Karlsruhe zusammen mit Oberstleutnant von Schwartzkoppen gesehen. Louis wird seines Postens als stellvertretender Bürgermeister des 7 . Arrondissements enthoben und von der Anwaltskammer wegen standeswidrigen Verhaltens bestraft. Reinach und andere prominente Unterstützer von Dreyfus verlieren bei den Parlamentswahlen ihre Sitze.
Weitere Kostenlose Bücher